Der Anfang von   Astrid Nagel



Nik trat in die Pedale. Es war mühsam gegen den eisigen Sturm anzukämpfen, der ihm mit unerbittlicher Macht entgegenblies. Nik fror erbärmlich in seinem dünnen T-Shirt, doch gleichzeitig trieb die ungewohnte Anstrengung Schweißperlen auf seine Stirn. Er musste sich beeilen. Am Himmel braute sich etwas zusammen, das ihm ganz und gar nicht gefiel. Die schwarzen Wolken sahen jedenfalls verdammt nach Gewitter aus.
Keuchend erreichte Nik den Waldrand als auch schon die ersten Regentropfen klatschend auf seiner Nase landeten. In einigen Metern Entfernung zweigte ein schmaler Pfad von dem Fahrweg ab, eine Abkürzung, die direkt durch den Wald führte. Nik zögerte einen Moment, dann riss er den Lenker entschlossen herum und dirigierte sein Fahrrad in Richtung der schützenden Bäume.
In ihrem Windschatten kam er zuerst zügig vorwärts, doch dann wurde der anfänglich ebene Weg zusehends holpriger. "Mist! Die Idee war wohl doch nicht so gut", konnte Nik gerade noch denken, als das Vorderrad unvermittelt in einem Loch stecken blieb und er in hohem Bogen durch die Luft segelte.
Der Aufprall war schmerzhaft. Stöhnend hievte Nik sich wieder in die Höhe, doch zum Glück schien nichts gebrochen zu sein. Das Fahrrad hatte den Unfall leider weniger glimpflich überstanden. Beide Reifen waren platt und das ehemals runde Vorderrad erinnerte stark an die abstrakte Plastik eines modernen Künstlers. Fahren konnte er erst mal vergessen.
Ein greller Blitz zuckte vom Himmel und sein schwefelgelbes Licht ließ für einen kurzen Augenblick schemenhafte Umrisse erkennen. Etwas bewegte sich im fahlen Licht. Waren dies wirklich nur Blätter? Nik drehte sich ängstlich im Kreis. Plötzlich wirkte dieser finstere Wald heimtückisch und gefährlich. "Nichts wie weg hier", flüsterte Nik mit heiserer Stimme und lief los.
Nach und nach verblasste das letzte bisschen Tageslicht und die Nacht senkte sich über den Wald. Schließlich war es so finster, dass Nik kaum noch erkennen konnte wohin er stolperte. Die einzige Orientierungshilfe blieb das grelle Leuchten der Blitze, die nun in immer kürzeren Abständen vom Himmel zuckten. In ihrem bizarren Licht folgte Nik dem nicht enden wollenden Weg: vorbei an uralten Bäumen und verwilderten Büschen hastete er vorwärts. Rechts, links - über Wurzeln und Steine - durch dichtes Gestrüpp - rechts, links - weiter, weiter - solange, bis er erschöpft stehen blieb und sich eingestehen musste, dass er sich hoffnungslos verlaufen hatte.
Suchend drehte er sich im Kreis. Da war nichts, was ihm helfen konnte. Oder doch? Angestrengt spähte Nik in die Dunkelheit und dann, beim nächsten Leuchten eines Blitzes, sah er es klar und deutlich vor sich: ein Haus! Wer wohnte nur hier - vollkommen einsam und verlassen? Nik hatte noch nie von einem Haus im Wald gehört! Konnte er sich wirklich dorthin wagen und um Hilfe bitten?
Doch die Entscheidung wurde ihm abgenommen. Als habe der Himmel alle Schleusen gleichzeitig geöffnet, fing es plötzlich an wie aus Kübeln zu schütten. Nik rannte los. Nasse Zweige peitschten ihm ins Gesicht, aber er achtete nicht darauf. Das kleine rettende Licht vor Augen stürmte er verbissen weiter bis er endlich das geheimnisvolle Haus erreicht hatte.
Triefend vor Nässe betrat er eine überdachte Holzveranda, die sich über die gesamte Breite des Gebäudes erstreckte. Ein leises Quietschen ließ ihn herumfahren, doch er konnte nichts Beängstigendes entdecken - nur einen alten Schaukelstuhl, der, wie von Geisterhand geführt, unablässig hin und her wippte.
Nik war so in Gedanken versunken, dass er aufschrie als plötzlich ein helles Licht in seiner Nähe aufflammte. Es kam aus einem der Fenster, das sich nun klar und deutlich von der düsteren Hauswand abhob. Misstrauisch näherte sich Nik. Vielleicht gelang es ihm ja einen Blick in das erleuchtete Zimmer zu werfen. Wenn er den Bewohner gesehen hatte, konnte er immer noch entscheiden, ob er sich bemerkbar machen sollte oder besser nicht.
Niks Geduld wurde auf eine harte Probe gestellt, doch dann tauchte plötzlich ein Mann in dem goldenen Licht des Fensters auf. Er trug ein wallendes Nachthemd sowie eine Zipfelmütze und hielt eine flackernde Kerze in seinen Händen. Alles in allem machte er einen durchaus vertrauenserweckenden Eindruck, es gab also keinen Grund noch länger hier in der Kälte zu bibbern.
Forsch trat Nik zur Tür und zog an der Klingelschnur. Ein dumpfer Ton hallte durch das Haus. Nick hörte schlurfende Schritte, die sich näherten, dann wurde ein Riegel zurückgeschoben und die Tür öffnete sich unter leisem Knarren.
Erleichtert trat Nik ein ... und blickte sich verwundert um. Niemand war zu sehen. Wer auch immer ihm geöffnet hatte, war wie von Erdboden verschluckt. "Hallo, ist hier jemand", rief Nick und schaute sich suchend um.
Altertümliche Fackeln, die an grobverputzten Wänden befestigt waren, erhellten mit ihrem zuckenden Licht eine riesige Diele. Sie war vollkommen leer. Nicht das geringste Möbelstück war zu entdecken, kein Bild an den Wänden, absolut nichts. Mehrere verschlossenen Türen führten in angrenzende Räume. Nik zählte zwölf, das Haus musste größer sein als es von außen gewirkt hatte.
"Haaaaaaaaaallooooooooooo", rief er erneut, diesmal so laut er konnte. "Warum brüllst du so", antwortete eine hohe, dünne Stimme hinter seinem Rücken. Nik fuhr herum. Vor ihm stand der Zipfelmützenmann, den er soeben noch durch das Fenster beobachtet hatte. Sein Blick war wenig freundlich. Mit stechenden Augen fixierte er den ungebetenen Eindringling.
"Was willst du hier?"
"Entschuldigen Sie", stammelte Nik. "Ich hatte eine Panne mit meinem Fahrrad, und dann habe ich mich auch noch verirrt. Können Sie mir vielleicht helfen?"
"Warum sollte ich? Du hast hier nichts verloren, also verschwinde gefälligst."
"Aber solange es dunkel ist werde ich nicht aus dem Wald herausfinden. Kann ich nicht wenigstens bleiben bis es hell wird?"
Der Zipfelmützenmann schien plötzlich beunruhigt. "Verschwinde", zischte er nochmals eindringlich. "Hau ab, bevor es zu spät ist." Im gleichen Moment fing irgendwo eine Uhr an zu schlagen. Dumpf und drohend. Eins ... zwei ... drei ... vier ... fünf ... sechs ... sieben ... acht ... neun ... zehn .... elf ... zwölf.
Mit einem leisen Aufschrei drehte sich der Mann um, rannte davon und war genauso plötzlich verschwunden wie er zuvor aufgetaucht war. Sein Verhalten war ziemlich merkwürdig, fand Nik. So wie alles in diesem eigenartigen Haus. Vielleicht war es doch besser dem Rat des Alten zu folgen und zu verduften. Entschlossen wandte er sich wieder dem Ausgang zu und wollte gerade in die Gewitternacht zurückkehren, als das Tor mit einem donnernden Schlag zufiel. Erst jetzt erkannte Nik, dass es durch zwölf Schlösser gesichert war, die nun eins nach dem andern zuschnappten. So sehr Nik auch an dem Tor und an den Schlössern rüttelte, sie bewegten sich keinen Millimeter. Er war gefangen.
Ein schauriges Lachen ertönte in seinem Rücken.
Nik spürte, wie sich seine Nackenhaare sträubten. Langsam, als habe er Angst vor dem was seine Augen gleich sehen würden, drehte er sich um ... und erstarrte. Vor ihm, nur wenige Meter entfernt, schwebte ein undefinierbares Etwas.
"Was hast du hier zu suchen?", hauchte es. Nik spürte wie ihn ein kühler Windzug streifte und eine Gänsehaut zurückließ. Vor Schrecken war er wie gelähmt und nicht in der Lage zu antworten.
"Nun, im Grunde genommen ist es auch egal warum du hier bist", säuselte das Gespenst weiter. "Es interessiert mich nicht. Aber vielleicht interessiert es dich, wie du hier wieder herauskommst?"
Noch immer war Nick nicht in der Lage zu sprechen und nickte stattdessen nur heftig mit dem Kopf.
"Hör gut zu! Wenn du mein Reich wieder verlassen willst, brauchst du diese hier." Das unheimliche Wesen streckte seine durchscheinende Hand aus und Nik konnte deutlich mehrere Schlüssel darin erkennen. "Zwölf Schlüssel sind es, du unwissender Wurm. Einer für jede Stunde der Nacht. Findest du sie bevor das Sonnenlicht die Dunkelheit vertreibt, kannst du das Tor öffnen und bist frei. Findest du sie jedoch nicht, wirst du dazu verdammt sein auf immer hier zu bleiben, als Kreatur der Nacht."
Er schleuderte seinen Arm in die Höhe. Die zwölf Schlüssel stoben auf und schwebten in unterschiedlichen Richtungen davon. Nik folgte mit seinen Augen staunend ihrer Bahn und sah wie jeder von ihnen durch eine der zwölf Türen drang. Gleichzeitig mit dem letzten der Schlüssel verschwand auch das geheimnisvolle Gespenst, löste sich einfach auf und ließ seinen Gefangenen einsam und zitternd vor Grauen zurück.
Nik hatte keine Wahl. Wollte er jemals wieder nach Hause kommen, musste er diese elenden Schlüssel finden. Und das möglichst schnell. Ängstlich näherte er sich einer der Türen und drückte die mächtige Klinke nach unten. Sofort sprang sie auf und führte ihn in einen geheimnisvollen, dunklen Raum. Im selben Moment, in dem die Tür hinter Nik ins Schloss fiel, erhellte er sich und gab nach und nach sein schauriges Geheimnis preis. Mit schreckensgroßen Augen blickte Nik um sich. Wo, um Himmels willen, war er gelandet?



Einführung    Monatssieger    Letzte Fortsetzung    Teilnehmer     Presse