2. Fortsetzung von  Frauke und Verena Weber

Erstaunt blickte Nik sich um. Hier sah es ja aus wie in der Antarktis! Er stand in einer riesigen Wüste aus Schnee und Eis. Und es war dementsprechend kalt. Nik begann zu zittern und seine Zähne klapperten. Warum hatte er nur ein T-Shirt an?
"Ja, ja, ziemlich kalt hier, nicht?"
Nik wirbelte herum. Wer hatte gesprochen? Zu seiner Überraschung war die Tür verschwunden. An ihrer Stelle stand ein großer, glitzernder Eispalast. Wer da gesprochen hatte, musste ER gewesen sein, überlegte Nik. Doch wer um alles in der Welt war ER? Und wo war ER? Die Stimme hatte sich ganz nah angehört.
"He, Kleiner! Hier spielt die Musik!", ertönte die Stimme wieder. Etwas zupfte an seinem Hosenbein. Nik senkte den Blick und starrte direkt auf die schneeweiße Mütze einer kleinen blauen Gestalt. Jetzt blickte sie zu ihm auf. Nik konnte ein gnomenhaftes Gesicht mit einer Knubbelnase sehen.

"Was - äh - wer bist du denn?", fragte Nik verdattert.
"Ich bin Æõçý, der Eiszwerg."
"W i e heißt du? Tut mir leid, ich hab's nicht verstanden.", meinte Nik verwirrt.
"Æõçý. Ist doch ein ganz normaler Name. Wenn dir das zu schwer ist, nenn mich einfach Goliath."
In diesem Augenblick ertönte wieder die leise flehende Stimme: "Nik ... hilf mir ... du bist meine letzte Rettung ..."
"Ach ja", sagte der Zwerg. "Fast hätte ich es vergessen. Du bist ja wegen deiner Aufgabe hier!" Sein Gesicht verfinsterte sich. "Ich kann Eindringlinge gar nicht leiden. Aber machen wir's kurz. Du willst den Schlüssel holen, richtig?" Als der Junge nickte, fuhr Æõçý fort: "Den Schlüssel hat Tamara, das Mädchen, dessen Stimme du gerade gehört hast. Aber ich habe ihren Körper eingefroren. Genau so."
Er blies einen Strom blauen Eises gegen einen Schneehasen, der gerade sein Fell putze. Mitten in der Bewegung erstarrte das Tier. Als Goliath Niks entsetztes Gesicht sah, lachte er grimmig.
"Ja, genau so. Ihren Kopf habe ich frei gelassen, damit sie noch atmen kann. Ich stelle dir jetzt ein Rätsel, das du lösen musst, um Tamara zu befreien und den Schlüssel zu bekommen. Du hast nur einen Versuch. Antwortest du falsch, wirst du vereist. Alles klar?"
Ohne auf eine Antwort zu warten, begann Goliath, das Rätsel zu stellen:
          "Ein gelbes Auge im blauen Gesicht
          Sah ein gelbes Auge im grünen Gesicht.
          Jenes Auge gleicht diesem Auge,
          Sagte das erste Auge,
          Doch an einem niederen Platz
          Und nicht an einem hohen Platz."
"Oh je, oh je", murmelte Nik. "Das hört sich ja kompliziert an. Ein gelbes Auge im blauen Gesicht ... Könnte ich das Rätsel noch einmal hören?"
Geduldig wiederholte Æõçý den Vers noch dreimal, bis Nik ihn auswendig konnte.
"Blaues Gesicht ... Moment mal, das ist der Himmel! Und gelbes Auge ... Natürlich! Die Sonne!" Bildete er es sich ein, oder war es auf einmal wärmer geworden? Aber nein, das kam wahrscheinlich nur, weil er sich so anstrengte.
"Grünes Gesicht ... Himmel und Erde! Dann ist das grüne Gesicht eine Wiese! Das gelbe Auge muss dann eine Blume sein", überlegte Nik laut. Jetzt konnte es keinen Zweifel mehr geben: Es war um mindestens sieben Grad wärmer geworden. Niks Blick fiel auf Goliath. Der Zwerg schwitzte gewaltig und schien irgendwie geschrumpft zu sein.
"Vielleicht ist die gesuchte Blume eine Sonnenblume", meinte Nik. "Halt! Jedes Auge gleicht diesem Auge ... es muss also eine Blume sein, die wie eine Sonne aussieht. Löwenzahn? Der ist gelb wie die Sonne. Doch was sollen die beiden letzten Zeilen bedeuten? Ach ja, es muss eine kleine Blume sein. Also nicht der Löwenzahn. Wie wäre es mit Gänseblümchen? Da ist die Sonne in der Mitte und außen herum lauter weiße Strahlen."
Er drehte sich zu Æõçý und rief: "He, Goliath, ist die Lösung des Rätsels vielleicht die Sonne, die auf ein Gänseblümchen scheint?"
"Neiiiiiiin, er hat's gelöst!", schrie Goliath auf und wurde immer kleiner und kleiner und war dann auf einmal verschwunden.


Die Eiswüste und der Eispalast waren verschwunden. Nik stand in einem winzigen quadratischen Raum und ihm gegenüber stand ein Mädchen mit zwei langen braunen Zöpfen. Es lächelte, schob die Hand in die Tasche ihrer Jeans und zog einen goldenen Schlüssel heraus.
"B - bist du Tamara?", stotterte Nik.
"Ja", sagte das Mädchen mit krächzender Stimme. Sie klang verschnupft. "Ich bin ein wenig erkältet. Immerhin war ich jetzt elf Tage in diesem Eispalast gefangen. Danke schön, Nik, dass du mich befreit hast!" Tamara drückte Nik den Schlüssel in die Hand. "Da, schließ die Tür auf!"
Gemeinsam liefen sie aus dem Raum und zur Eingangstür. Nik probierte die elf übriggebliebenen Schlösser aus, bis er das zum Schlüssel passende gefunden hatte. In diesem Moment schlug die Wanduhr zwei Uhr. Eine weitere Stunde war verstrichen.
 
Nik drehte sich um und wie erwartet stand der geheimnisvolle Zipfel- mützenmann wieder vor ihm. "Du hast sie tatsächlich zurückgebracht", staunte er und betrachtete argwöhnisch das heftig niesende Mädchen.
"Es war nicht einfach", erwiderte Nik. "Ich habe mir beinahe die Nase dabei abgefroren, aber es hat sich gelohnt. Darf ich vorstellen: das ist Tamara."
"Gut, gut. Dann könnt ihr ja zukünftig gemeinsam nach den Schlüsseln suchen. Aber auch zu zweit wird es euch nicht gelingen, mein Haus von dem Fluch zu befreien."
"Welchem Fluch?", fragte Tamara und kämpfte gleichzeitig mit ihrer tropfenden Nase.
"Nun, dieses Haus war nicht immer so. Früher war es ein gemütliches Heim, in dem Bruno und ich lebten, friedlich und ohne Sorgen. Bis zu jenem schicksalhaften Tag, an dem ein Wanderer an meine Tür klopfte. Normalerweise lebe ich sehr zurückgezogen, denn ich kann mit anderen Menschen nichts anfangen, aber dieser arme Mann sah so elend aus, dass ich Mitleid mit ihm empfand. Ich ließ ihn ein, bewirtete ihn und bot ihm sogar ein Nachtlager an. Doch als die Uhr zwölf schlug, verwandelte er sich plötzlich in dieses schreckliche Gespenst und mein Haus in ein erbärmliches Gruselkabinett."
"Gibt es denn keine Möglichkeit, dieses Gespenst wieder zu vertreiben?", fragte Nik.
"Nun, es gibt tatsächlich eine", fuhr der Alte zögernd fort. "Aber ich allein kann es nicht schaffen. Und euch beiden - euch traue ich nicht."
"Aber warum nicht?", platzte Tamara heraus.
"Weil ich niemandem mehr traue. Außer Bruno natürlich. Auf ihn und sein Urteil konnte ich mich immer verlassen. Ja - wenn er euch akzeptieren würde, dann ..."
"Und wo ist dieser sagenhaft Bruno?" Nik wurde langsam ungeduldig.
Nach kurzem Zögern öffnete der Zipfelmützenmann einen kleinen Beutel, der um seinen Hals hing, holte vorsichtig etwas heraus und streckte den beiden Besuchern seine Handfläche entgegen.
"Das ist Bruno?", stammelte Tamara ungläubig. "Aber das ist, das ist - ein kleiner grüner Wurm."
"Das ist kein Wurm", brummte der Alte empört und streichelte gleichzeitig liebevoll den sich windenden Winzling. "Das ist ein Hund."
Nik und Tamara warfen sich einen vielsagenden Blick zu, doch der Alte ließ sich davon nicht irritieren.
"Von der ersten Sekunde an hat Bruno diesen Wanderer angeknurrt. Wenn ich nur auf ihn gehört hätte, dann wäre dies alles nicht geschehen. Als der Schreckliche dann sein wahres Wesen zeigte und mich bedrohte, hat Bruno sich auf ihn gestürzt, um mich zu retten. Na ja, und dann hat dieses Ungeheuer meinen Bruno einfach verzaubert. Aber wenn ihr beiden es schafft, ihn zu erlösen, und er euch vertraut, dann will auch ich es tun und euch in mein Wissen einweihen."
"Hört sich nicht schlecht an", meinte Nik. "Aber wie können wir Bruno helfen?"
Der Zipfelmützenmann deutete auf eine der Türen. "Hinter dieser lebt eine total verrückte Hexe. Sie hat einen der Schlüssel, die ihr braucht, und auch jede Menge Zaubertränke. Aber der Weg durch ihre verdrehte Welt ist gefährlich und die Alte wird euch das Gebräu nicht freiwillig geben. Wollt ihr es trotzdem wagen?"
Nik und Tamara verständigten sich mit einem schnellen Blick. Was blieb ihnen schon anderes übrig, als es einfach zu versuchen. Gemeinsam öffneten sie die Tür und traten hindurch. Doch bereits nach den ersten Schritten blieben sie wie angewurzelt stehen ...




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