Felsen. Nichts als Felsen umgaben die beiden. Das Licht hier war dämmrig und rot und das Gestein der Felsen und Steinhaufen war schwarz und die ganze Szenerie erinnerte auf erschreckende Weise an die Vorstellung der Hölle aus alten Büchern.
Mike fuhr auf dem Absatz herum und wäre beinahe mit einem Felsvorsprung zusammengestoßen. Fluchend trat er einen Schritt zurück und betrachtete die Tür die hinter ihm ins Schloß gefallen war. In der Hütte war es noch eine ganz gewöhnliche Tür aus einer Holzplatte gewesen, an die jemand mit wenig Geschick eine Türklinke genagelt hatte, aber von dieser Seite der Wirklichkeit betrachtet hätte sie gegensätzlicher nicht sein können. Dicke Holzstämme wurden von schweren Eisenbohlen zusammengehalten.
Die Tür selbst war von Runen und Schriftzeichen nahezu übersät. Alle möglichen Sprachen und Religionen waren hier vertreten. Von Latein über Arabisch und Hebräisch bis zu einer alten deutschen Schrift mit mehr Schnörkeln als Buchstaben.
Die meisten Schriften waren von Wind und Wetter so verblichen, dass man kaum noch was erkennen konnte. Eines war jedoch von keinem derer, sich hier verewigt hatten, verändert worden: ein großer Stern der von einem Kreis umgeben wurde. Ein Pentagramm.
Mike schauderte. "Hast du ´ne Ahnung was das Gekritzel zu bedeuten hat?"
Babs fuhr mit dem Finger an den Einkerbungen entlang und runzelte die Stirn.
"Ich kann zwar weder Latein noch sonst eine dieser Sprachen, aber ich glaube das alles soll eine Warnung sein."
"Eine Warnung wovor?", sagte Mike, mehr zu sich selbst.
Babs zuckte die Schultern. Sie verstand das ganze selbst nicht. Zuerst dieser Dämon und jetzt das.
"Vielleicht sollten wir uns zuerst mal hier umsehen", schlug Mike vor. "Die ganze Umgebung hier gefällt mir nicht. Zu viele Felsen und zu wenig Natur."
Babs nickte und mit einem letzten Blick auf die von Runen übersäte Tür wandte sie sich um und begann, über Felsen und Trümmer kletternd, sich immer weiter von der Tür und von Mike zu entfernen. Mike seufzte und begann ihr nach kurzem Zögern zu folgen.

"Da haben mir die Felsen besser gefallen als das hier!", schrie Babs. Sie musste schreien, denn das Tosen des Windes und das Gehämmer des Regens waren so laut, dass beiden die Ohren schmerzten.
"Dann versuch doch dahin zurückzukommen.", brüllte ihr Mike entgegen. "Wenn du dich beeilst hast du gute Chancen es bis in ca. zwei Wochen zu schaffen. Das heißt, wenn du nicht vorher ertrinkst oder von einer der Riesenbienen gefressen wirst, die wir vorhin gesehen haben."
Babs wandte sich ab und blickte aus ihrem Versteck hinaus in den Regen, der den Urwald zu überfluten drohte. Vor ca. einer halben Stunde hatten sie dieses halb verfallene Baumhaus in den Wipfeln einer Akazie entdeckt und hatten sich, in Ermangelung eines besseren Unterstandes, hier verkrochen. Zuvor waren sie beinahe zwei Stunden im Regen umhergeirrt, nachdem sie nur haarscharf der Attacke einer fast drei Meter großen Killerbiene entkommen waren. Sie hatte das alles jetzt so satt. Chris hatten sie noch kein bißchen helfen können, außerdem hatte sie Hunger, ihr war kalt, und Mike ging ihr auf die Nerven, da er nicht einmal halb so sehr litt wie sie.
Sie hatte sich ein riesiges Farnblatt um die Schultern geschlungen, das ihr nur den Anschein von Wärme verlieh, und so hockte sie jetzt da, total durchnäßt und reizbar wie ein alter Bär.
Plötzlich stand Mike auf, knotete sein Farnblatt vor der Brust zusammen und sagte: "Ich werde mal sehen, ob ich uns was zu essen auftreiben kann. Bleib du hier."
"Was? Bist du jetzt völlig übergeschnappt? Bei diesem Wetter bist du derjenige der ertrinkt oder gefressen wird!"
"Bleib cool. Ich kann schon auf mich aufpassen. Ich bin in ca. einer Stunde zurück. Wenn ich nicht zurückkomme, dann ruf die Polizei."
Und bevor Babs noch irgendwas sagen konnte, war er auf einen dicken Ast einen Meter unter ihnen gesprungen und war verschwunden.

Als Mike am Fuße des Baumes angekommen war, sank er gleich einige Zentimeter in den vom Regen aufgeweichten Boden. Er zog leise fluchend seinen Fuß mit einem saugenden Geräusch aus dem Boden, nur um beim nächsten Schritt erneut zentimetertief einzusinken.
Auf diese Art seinen Weg fortzusetzen war nicht nur äußerst zeitaufwendig, sondern auch sehr ermüdend. Als er dann nach fast einer halben Stunde keine zwanzig Meter weit gekommen war, zog er sich schließlich seine Schuhe und Socken aus und lief barfuß weiter. Er kam jetzt zwar wesentlich schneller voran, hatte jedoch schon nach fünf Minuten kein Gefühl mehr in den Zehen.
Und weil heute ja sein Glückstag war, und weil aller guten Dinge drei waren, hatte er sich nach weiteren fünf Minuten hoffnungslos verirrt. War er an dieser roten Pflanze nicht rechts abgebogen? Wenn ja musste er sich beim zurücklaufen links halten. Oder? Oder war er links abgebogen? Daraus folgte, dass er sich rechts halten musste, wenn seine Theorie stimmte. Und war er an diesem Baum nicht schon dreimal vorbeigekommen? Er drehte sich einmal im Kreis und beschloss dann auf einen der Bäume zu klettern, um einen besseren Überblick zu haben. Er fragte sich, wieso er nicht schon viel früher darauf gekommen war. Die Bäume waren aber auch so leicht zu übersehen.
Gerade als er auf einen der Bäume zugehen wollte, raschelte es neben ihm im Gebüsch und Mike zuckte erschrocken zusammen. Er sah sich um und brach schließlich einen armdicken Ast ab, um ihn als Keule gegen den oder die vermeintlichen Angreifer zu benutzen. Wenn es eine Horde der Killerbienen war würde er so viele wie möglich mit in den Tod reißen. Aber was aus dem Gebüsch gekrochen kam, das sah einer Biene nicht im Geringsten ähnlich. Mike verzog bei dem Anblick der Abscheulichkeit angeekelt das Gesicht. Noch nie hatte er etwas gesehen was auch nur annähernd so hässlich war (mit Ausnahme einer Bluse seiner Mutter, die von rosa Farbe war und auf der giftgrüne Troddeln aufgenäht waren!). Nadeln wuchsen an allen möglichen und unmöglichen Stellen aus dem schuppigen Reptilien- panzer. Es war nicht höher als ein Terrier aber seine Hinterfüße, auf denen es hockte, waren fast doppelt so lang wie es selbst, wogegen seine Arme verkümmert wirkten. Es hatte an jeder Hand nur drei Finger, die mit spitzen Krallen gespickt waren.
Ein einzelner Zahn ragte über die Oberlippe des Geschöpfes. Es hatte tennisballgroße Augen, die ununterbrochen tränten und aus seinen riesigen, zerfransten Ohren wuchsen lange Büschel schwarzen, drahtigen Haares.
Die Abscheulichkeit zu Mikes Füßen gab ein jämmerliches Quicken von sich. Mike wich einen Schritt zurück, dann noch einen und als das Vieh näher kam sprang er auf den Stamm einer Fichte, die schon vor langer Zeit das Zeitliche gesegnet hatte.
Die Kreatur blieb stehen und betrachtete Mike genau, dann quäkte es: "Hunger!"
"WAS?", brüllte Mike. Diese Vieh konnte wirklich...
"Hunger!", wiederholte es.

"Wenn Mike nicht bald hier auftaucht, dann geh ich ihn suchen!", murmelte Babs wütend als die Stunde (nach ihrem Zeitgefühl zu urteilen) schon fast um war. Damit tat sie Mike zwar nur einen Gefallen aber sie konnte es sich nicht leisten noch einen Freund zu verlieren. Und außerdem war sie halb krank vor Hunger. Sie blickte in den Regen und beschloss lieber noch eine halbe Stunde zu warten. Vielleicht konnte sie so lange das Baumhaus auf Vordermann bringen? Es sah hier fast genauso verwüstet aus wie in der Hütte, in der sie das Buch und die Dose gefunden hatten. Die Wände waren aus Bambus, und nur noch zwei und eine halbe Wand standen. Die Hälfte der Bambusstämme der dritten Wand lagen im Zimmer verstreut. Die vierte Wand existierte gar nicht und an einer der beiden ganzen Wände stand etwas, das einer Bank ähnelte. Daneben, fast im Schatten der Bank, stand eine Truhe, die sie vorher noch nicht bemerkt hatte. Neugierig kroch sie auf die Truhe zu und versuchte sie zu öffnen. Die Truhe war alt und morsch und erst beim dritten Versuch schaffte sie es, die Truhe einige Zentimeter zu öffnen, sodass sie ihren Arm hineinstecken konnte. Sie tastete auf dem hölzernen Boden herum. Plötzlich hatte sie etwas in den Fingern. Sie schloss die Faust darum und zog ihr Fundstück langsam aus der Truhe. Sie öffnete ihre Hand und schrie entsetzt auf.

"Hunger!", wiederholte das Vieh nun zum dritten Mal als Mike auf die ersten beiden Male nicht reagiert hatte. Mittlerweile hatte er sich von seinem Schock ob der Hässlichkeit des Biestes erholt und war nunmehr interessiert was er da vor sich hatte.
"Ja und? Was kann ich da jetzt machen?", fragte Mike. Vielleicht konnte das Vieh eine so schwierige Frage nicht erfassen. Vielleicht war es nur eine Art Papagei der einfach nachplapperte was man ihm erzählte. Aber leider war es nicht so.
"Du gibst mir etwas zu essen,", verlangte es.
"Und wenn nicht?", fragte Mike.
"Dann werde ich dich essen,", sagte es bestimmt und begann auf Mike zuzutrippeln.
"Bleib bloß weg von mir!", schrie Mike und machte eine ausholende Geste mit seinem Knüppel um das Vieh auf Distanz zu halten.
Es blieb stehen und legte den Kopf schief wie um zu überlegen, ob Mike es wert war, ihn zu umgehen, um an ihn heranzukommen.
Es schien zu einer anderen Überlegung zu kommen und trippelte weiter auf ihn zu und Mike hob drohend den Knüppel.
"Ich warne dich! Wenn du mir zu nah kommst, hau ich dich zu Brei!"
Es legte den Kopf erneut schief, als plötzlich ein Schrei durch den Urwald hallte. Babs! Schoss es Mike durch den Kopf. Er musste zu ihr! Aber wie? Zwischen ihm und Babs war das Monster. "Hör zu", sagte er zu dem Vieh. "Der Schrei gerade, den hast du doch sicher gehört?" Es nickte.
"Also, ich muss zu diesem Schrei hin. Wenn du mich vorbei lässt, dann besorg ich dir was zu essen." "Woher weiß ich, dass du das dann auch wirklich machst?"
"Ich gebe dir mein Wort!"
Das Geschöpf überlegte kurz, dann trippelte es ein paar Schritte zurück, um ihm den Weg freizumachen. Mike warf den Knüppel weg und flog beinahe zu der Akazie zurück. Von Verlaufen war keine Rede mehr. Er wusste den Weg so genau, als sei er ihn tausend Mal gegangen. Er kletterte im Eiltempo den Stamm hoch und wäre beinahe wieder runter gefallen, denn es goss immer noch wie aus Kübeln und der Stamm war glitschig. Er strampelte verzweifelt und mit einem Schwung war er bei Babs.
"Was ist passiert? Was ist passiert?", fragte Mike.
Babs saß auf der Bank im Baumhaus und deutete zitternd mit einer Hand in eine Ecke. "Eine.. eine... eine Spinne!"
Mike verdrehte die Augen und blickte die Spinne an. Sie war zwar abstoßend und widerlich aber im Grunde doch harmlos.
Ein Schatten aus seinem Augenwinkel fuhr blitzschnell auf die Spinne nieder und verschlang sie mit einem Bissen.
"Was ist denn das?", schrie Babs entsetzt.
"Ach, der", meinte Mike. Er hatte gar nicht bemerkt, dass dieses Vieh ihm gefolgt war. "Den hab ich irgendwo dahinten aufgegabelt. Warum machst du denn so ein Theater nur wegen einer Spinne?"
"Vergiss doch mal die Spinne. Ich hab was Interessantes entdeckt! Sieh mal." Sie deutete auf die alte Truhe, die sie gefunden hatte. "Da war auch die Spinne drin. Vielleicht finden wir etwas, das uns helfen könnte!" Mike ging langsam auf die Truhe zu, ließ sich davor nieder und versuchte sie zu öffnen. Er musste seine ganze Kraft gegen den Deckel stemmen, um ihn wenigstens so weit aufzubekommen, dass ein wenig Licht hineinfiel. Als er dann in die Truhe hineinblickte, sah er...
"Ein Buch!", rief Mike.
"Was? Als ich hineingegriffen habe war da nur diese Spinne!", murmelte Babs.
Mike griff in die Truhe und holte das Buch, das er entdeckt hatte, heraus - und stieß einen überraschten Schrei aus.
"Was ist?", fragte Babs.
Mike zeigte ihr das Buch.
"Aber das ist doch..."
"...das aus der Hütte, in der Chris immer noch liegt", beendete Mike den Satz.
Er schlug das Buch auf. Diesmal war es nicht leer. Das Buch war mit seltsamen Schriftzeichen gefüllt, die einigen von denen ähnelten, die sie schon auf der Tür entdeckt hatten. Nur schienen sie hier noch unübersichtlicher.
"Wer soll denn das lesen können?", fragte Mike etwas enttäuscht.
Und zu ihrer beider Überraschung meldete sich das hässliche Vieh, das Mike fressen wollte.
"Ich kann das lesen."
"DU?", sagten Mike und Babs wie aus einem Mund.
"Natürlich ich. Ich lebe doch hier. Lass mich das mal sehen", sagte es und deutete mit einem seiner kurzen Arme auf das Buch in Mikes Händen.
Mike reichte ihm das Buch (das heißt, er legte es vor ihm auf den Boden) und der Kleine fing an wie ein verrückter auf den Seiten des Buches herumzuhüpfen. Er blätterte mal vor, mal zurück und schnüffelte am Einband des Buches. Nach ca. einer halben Stunde wurde es Mike zu bunt und er stieß ein genervtes Schnaufen aus. Als sei dies das Stichwort gewesen, beendete es sein, in Mikes Augen sinnloses Tun und verkündete stolz: "Ihr seid die beiden die Den-ohne-Namen jagen, stimmts?"
"Ähm, ja."
"Dann solltet ihr vielleicht zu seinem Grab gehen, und den Stein von Beltane holen. An dem hängt er nämlich!"
"Sein Grab?", fragte Mike."Wo ist das?"
"Gar nicht weit von hier in einer Grotte. Ich kann euch hinbringen. Außerdem hat es aufgehört zu regnen:" "Dann nichts wie los, ich will diese Welt so schnell wie möglich wieder verlassen!"

Einen halben Tag später standen die drei wieder vor der mit Runen übersäten Tür. Der Stein von Beltane lag in Mikes linker Hosentasche und das Vieh hatte sie die ganze Zeit über begleitet.
"So und jetzt stehen wir vor dem nächsten Problem, wie kommen wir zurück? Die Tür ist zu und sieht nicht so aus als würde sie demnächst wieder aufgehen!", meinte Mike.
Die kleine Scheußlichkeit zu seinen Füßen wuselte hinter einen großen Stein. Plötzlich ertönte ein leises Klicken und die Tür begann langsam und unter halsbrecherischem Quietschen aufzuschwingen. Mike war so verdattert, dass er vergaß aus dem Weg zu gehen, sodass die Tür ihm beinahe über die Zehen gefahren wäre, hätte Babs ihn nicht im letzten Moment weggezogen.
Hinter der Tür lag Chris noch immer so da, wie sie ihn verlassen hatten. Nichts hatte sich verändert. Sie rannten auf ihn und die Dose zu und Mike legte den Stein in die Dose.
Nichts passierte.
"Vielleicht müssen wir irgendwas sagen? Zum Beispiel Abra - Kadabra oder so was?", meinte Mike. Als hätten die Zauberworte etwas bewirkt, war das Zimmer plötzlich erfüllt von einem Rauschen. Ein riesiger schwarzer Schatten flatterte ins Zimmer, und verschwand in der Dose. Der Deckel flog zu und die ganze Dose löste sich unter einem Knall in Rauch auf. Im selben Moment begann Chris sich zu regen...