11. Fortsetzung von Janna und Rieke Dolde

Es war stockdunkel, als die Türe hinter ihnen ins Schloss fiel. "Halt! Halt!", piepste plötzlich eine kleine Stimme an Tamaras Ohr.
"Wer bist du? Wir können dich nicht sehen", fragte Tamara.
"Ich bin's doch, die kleine Fee", flüsterte das Stimmchen. "Ich wollte euch nur warnen."
"Warum? Und vor was?", fragte Nik interessiert.
"In diesem Land haust, wie ihr vielleicht schon gehört habt, in einer Höhle, die hier ganz in der Nähe ist, ein zweiköpfiger Riese. Er ist hinterlistig und böse."
"Ja, das wissen wir schon", unterbrach Nik die kleine Fee. "Wolltest du uns davor warnen?"
"Nein, nein! Jetzt hört mir doch einfach mal zu", schimpfte sie wütend. "Also, dieser Riese hat eine gemeine Art, sich seine Untertanen zu verschaffen. Ihr dürft ihm auf gar keinen Fall in seine glühenden Augen schauen, denn sonst seid ihr für immer verloren und müsst ihm für immer in seiner Schattenwelt dienen", erklärte die kleine Fee. "Also habt ihr verstanden? Ihr müsst gut auf euch acht geben!"
Bevor sich die beiden Kinder noch bei ihr bedanken konnten, war die Fee schon mit einem leisen ‚Plopp' verschwunden.
                           Nik und Tamara nahmen all ihren Mut zusammen und liefen weiter hinein in die Finsternis. Ein leichter schwarzer Umriss verriet ihnen, dass sie geradewegs in eine Höhle hinein liefen. Es wurde immer dunkler, doch plötzlich flackerten rings um sie herum leuchtenden Augenpaare auf.
"Schau sie nur nicht an", warnte Nik Tamara. "Du hast ja gehört, was die Fee uns erzählt hat. Und wir wissen ja nicht, ob eines dieser Augenpaare nicht dem zweiköpfigen Riesen gehört."
Vorsichtig tasteten sie sich mit halbgeschlossenen Augen vorwärts, den Blick nur auf den Boden gerichtet. Sie wagten es nicht nach rechts und links zu schauen. Plötzlich wurde es um sie herum immer heller.
"Was ist das? Haben wir das Ende dieser Finsternis erreicht?", fragte Tamara hoffnungsvoll. Nik riskierte einen kurzen Blick um sich und rief entsetzt: "wir sind von leuchtenden Augenpaaren umzingelt, es müssen Hunderte sein!"
"Wer seid ihr?", fragte Tamara mit zitternder Stimme. "Was wollt ihr von uns?"
Doch statt einer Antwort hörten sie plötzlich ein seltsames Surren in der Luft. Sie nahmen sich an den Händen und wollten losrennen. Aber zu spät. Jemand hatte ein Netz über sie geworfen. Sie waren gefangen. Die leuchtenden Augen kamen immer näher und eine unsichtbare Kraft hob sie hoch und trug sie weiter tief in die Höhle hinein. Die beiden hörten nichts, außer ständig "Plopp", "Plopp", und ab und zu spürten sie ein paar nasse Tropfen von oben.
"Ich glaube, wir sind in einer Tropfsteinhöhle", bemerkte Nik. "Das Wasser ist ganz schön kalkhaltig. Pass auf, dass du nichts in deine Augen bekommst."
Plötzlich durchbrach ein höhnisches Gelächter die Stille und eine hämische Stimme rief: "Ich rieche frische Menschenwesen. Wieder jemand, der meint es mit mir aufnehmen zu können. Wartet, lasst sie noch nicht frei. Ich muss zuerst meine Augenbinde abnehmen. Dieses verfluchte Kalkwasser der Tropfsteine brennt einfach höllisch, wenn man es in die Augen bekommt."
"Wir warten nicht, bis er uns mit seinen Augen bezwingt", flüsterte Nik Tamara zu. "Renn los sobald sie uns loslassen und schau um Himmels Willen nicht in die Richtung des Riesen."
Gerade als der Riese das Netz öffnen wollte, um Nik und Tamara mit seinen Augen zu bezwingen, rannten beide los so schnell sie konnten. Um dem Blick des Riesen auszuweichen, liefen die beiden aber nur kreuz und quer durch die Höhle. Sie hatten nur einen Gedanken: "Schau ihm nicht in die Augen."
Nik wusste nicht genau, wo Tamara war und Tamara wusste nicht, wo Nik steckte. Sie rannten einfach immer weiter, bis sie plötzlich seltsame Geräusche hörten: "Grrrr, orrrr, Hilfe, ich ersticke!"
Das war die Stimme des Riesen. Doch Nik und Tamara konnten seinen Körper nicht erkennen. Plötzlich hörten sie einen lauten Entsetzensschrei, dann waren überall grüne Lichtblitze, dann ein lauter Knall. Sie sahen sich nach den glühenden Augen um, doch sie waren verschwunden.
"Tamara! Wo bist du?", schrie Nik verzweifelt. "Hier", antwortete Tamara. "Hier drüben. Aua, was war denn das? Ich bin über irgendetwas gestolpert. Warte mal, Nik. Da liegt etwas auf dem Boden."
Doch bevor Tamara Genaueres feststellen konnte, hörten sie ein lautes Klirren, dann plötzlich war alles hell. "Was ist denn jetzt los?", fragte Nik. "Wieso ist jetzt alles hell?"
"Ich habe keine Ahnung", entgegnete Tamara.
Dann entdeckten sie auf dem Boden liegend den Riesen. Es sah aus, als ob er toto wäre. Außerdem waren plötzlich ganz viele Menschen um sie herum: Jungen, Mädchen, junge Leute, sogar ein paar Omas und Opas standen da.
"Was macht ihr denn plötzlich da?", fragte Tamara verwundert.
"Wir waren schon die ganze Zeit über in eurer Nähe", antwortete ihr ein Mädchen mit blonden Zöpfen und Sommersprossen. "Wir waren die Dämonen mit den leuchtenden Augen, die euch verfolgt und festgenommen haben."
Nik stand mit offenem Mund da und meinte: "Könnt ihr uns die Sache vielleicht bitte mal genauer erklären? Mir fehlt ehrlich gesagt gerade der Durchblick."
"Also das ist so", erklärte das blonde Mädchen. "Vor langer Zeit war hier ein wunderschönes helles Tal mit saftigen grünen Wiesen. Alle haben sich wohlgefühlt und in Frieden gelebt. Doch eines Tages kam der zweiköpfige Riese in unser Land. Er verwandelte durch seinen magischen Blick alle Lebewesen in willenlose Dämonen und sog alles Helle und Warme aus diesem Tal heraus in seinen magischen Stein hinein. Wir waren auf ewig verdammt. Ihr habt uns gerettet."
"Aber wie haben wir das geschafft? Ich hatte doch nur Angst und bin wie von Sinnen herumgerannt", meinte Tamara ungläubig.
"Also, das war so: Als der Riese das Netz, in dem ihr gefangen wart, geöffnet hat, seid ihr zwei wie von der Tarantel gestochen losgerannt. Dabei habt ihr nicht gemerkt, dass ihr immer zickezacke gelaufen seid und sich eure Wege immer wieder gekreuzt haben. Der Riese war so damit beschäftigt, euch mit seinen Augen zu verfolgen und zu bannen, dass er gar nicht bemerkte, wie sich seine beiden Köpfe am Hals verknoteten. Als er dann endlich begriff, war es zu spät."
"Er ist erstickt", rief eine kleine Oma begeistert. Ein Opa meinte zufrieden: "Jetzt kann ich endlich wieder mein Mittagsschläfchen in der Sonne halten."
"Ja, aber warum ist es jetzt wieder so hell?", wollt Nik wissen.
"Jetzt lass mich doch einfach ausreden", schimpfte die Oma. "Also bei seinem Aufprall ist ihm der magische Stein aus der Tasche gerollt und Tamara ist im Dunkeln über ihn gestolpert. Dabei ist der Stein zerbrochen und die Helligkeit und Wärme, die in ihm so viele Jahre eingeschlossen war, ist wieder herausgeströmt und wir haben unserer menschliche Gestalt zurückbekommen."
"Ach, so war das", sagten Nik und Tamara, die es jetzt begriffen hatten. "Komm, Nik. Wir müssen uns beeilen, schließlich brauchen wir ja noch ein Zeichen von der Macht des Riesen und den elften Schlüssel", drängte Tamara. Die beiden Freunde gingen zum Riesen. Er lag ausgestreckt, alle Viere von sich, und rührte sich nicht. Sein Zepter lag neben ihm und die Krone hing schräg auf seinem Kopf. Nik nahm die Krone und sie liefen zu den Talbewohnern zurück um sich zu verabschieden.
"Jetzt fehlt nur noch der Schlüssel", seufzte Nik.
"Kein Problem", antwortete Tamara und streckte ihm einen kleinen goldenen Schlüssel entgegen. "Woher hast du denn den?", wollte Nik wissen.
"Den hab ich auf dem Boden gefunden, als du die Krone genommen hast", lachte Tamara.
"Also dann vielen Dank", riefen die Talbewohner im Chor. "Ohne euch müssten wir weiter als Dämonen in der Finsternis leben."
Nik und Tamara rannten zurück zum Tor, die Jubelschreie hinter sich lassend. Schnell steckten sie den Schlüssel ins Schlüsselloch und waren froh, auch dieses Abenteuer heil überstanden zu haben.
Gleichzeitig spürten sie jedoch, dass etwas sich verändert hatte. Leises Murmeln erfüllte plötzlich die Eingangshalle, geheimnisvolles Wispern, Seufzen und Stöhnen. Verunsichert eilten sie zu dem ungeduldig wartenden Buch und zeigten ihm die Krone, die sie dem Herrn der Finsternis abgenommen hatten.
"Nicht schlecht", lobte das Buch die beiden Freunde. "Werft sie rasch in den Kessel. Wir müssen uns beeilen. Seit einiger Zeit höre ich Geräusche, die mir ganz und gar nicht gefallen. Irgendetwas braut sich zusammen." Vorbei an dem zu Stein erstarrten Zipfelmützenmann und dem ängstlichen Sparschwein, das zitternd hinter dem versteinerten Hund Deckung suchte, trat Nik an den Kessel und ließ die Krone hineingleiten.
Augenblicklich verwandelte die Macht der Finsternis die schillernde Flüssigkeit in eine schwarze, stinkende Brühe.
"Bäh." Tamara schüttelte sich angewidert. "Das riecht ja ekelig."
"Nicht für Dämonen", belehrte sie das Buch. "Die haben einen anderen Geschmack als normale Sterbliche. Hervorragend. Wir haben es tatsächlich geschafft. Das Dämonen-Vertreibungsmittel ist fertig. Ausgezeichnet. Wer hätte das gedacht. Wir sind wirklich ..."
"Stopp", unterbrach Nik ungeduldig das plappernde Buch. Das unheimliche Ächzen und Stöhnen wurde immer lauter. "Das Mittel ist fertig, schön. Aber wie können wir die Dämonen damit vertreiben?"
"Äh...", stotterte das Buch verdutzt. "Hm..., tja ..., pfff... keine Ahnung."
"Was?", riefen Nik und Tamara wie aus einem Mund? "Du weißt es nicht? Aber du bist doch ein magisches Buch!"
"Schreit mich bloß nicht an", schnappte das Buch beleidigt. "Immerhin habe ich euch die Zutaten verraten. Die Anwendung ist nicht meine Aufgabe. Normalerweise wissen das die Leute, die mich lesen, selbst."
Schweigend starrten sich Freunde und Buch an, während die elf Glockentöne unheilvoll durch die Halle dröhnten.
"Was ist hinter der letzten Tür", fragte Nik schließlich. "Wir müssen ja noch den zwölften Schlüssel finden."
"Nun, soviel ich weiß, eine Art Schule. Aber halt! Das ist die Idee! Sicher gibt es dort jede Menge kluge Köpfe. Ihr müsst nur einen finden, der euch erklärt wie man das Dämonen-Vertreibungsmittel anwendet."
Mit ungutem Gefühl öffneten Nik und Tamara die letzte Tür und traten hindurch. Verwundert schauten sie sich um. Sie standen tatsächlich in einem Klassenzimmer. Doch niemals zuvor hatten sie ein solches Klassenzimmer gesehen. Dann fiel ihr Blick auf die Schüler und den Lehrer und vor Überraschung verschlug es ihnen die Sprache ...






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