10. Fortsetzung von Katrin Durst

Nik und Tamara betraten zaghaft den Raum hinter der Tür. Doch sobald sie den ersten Schritt gesetzt hatten, wurden sie wie in einem Strudel in ein unendlich schwarzes Loch hinabgezogen. Immer schneller werdend wirbelten sie, bis sie mit einem lauten Rums auf dem Boden aufsetzten. Nik stand auf und klopfte sich den Staub von der Hose.
"Uff! Das war sicher der Zeitunterschied, in den wir da hineingeraten sind."
Er schaute Tamara an ... und meinte entsetzt: "Du siehst ja älter aus als meine Oma!"
Verdutzt blickte Tamara in ein glänzendes Schaufester vor ihnen. Ihre langen Zöpfe hingen grau hinunter und sie hatte Falten tief wie Krater im Gesicht.
"Oh, nein!", rief sie. "Es sieht ganz so aus, als wären wir um mindestens fünfzig Jahre gealtert. Warte mal ... w i r , also nicht nur ich, sondern auch du."
Zögernd drehte sie sich zu Nik um. Jetzt war es an ihr, entsetzt dreinzuschauen. Nik hatte eine Glatze, einen Buckel und nur noch sehr wenige Zähne. Tamara begann zu kichern und meinte: "Du solltest mal einen Zahnarzt besuchen!"
Nachdem sie sich wieder beruhigt hatte, meinte Nik: "Das ist logisch, wenn wir rund fünfzig Jahre durch die Zeit reisen, müssen wir ja so aussehen, als wenn wir älter als sechzig sind."
Dann schauten sie sich um. Kein einziger Baum war zu sehen. Dafür umso mehr Hochhäuser, die sich endlos in den Himmel streckten. Die ganze Welt erschien plötzlich grau, vor lauter Wolken, Häusern und den asphaltierten Straßen.

Also gut", sagte Nik. "Am besten gehen wir mal in einen dieser Wolkenkratzer rein."
"Tamara nickte und öffnetet die Tür. Vor ihnen saß ein mürrisch blickender Mann hinter einem Schreibtisch, auf dem seine Füße thronten.
"Was gibt's?", fragte er mit einer unfreundlichen Stimme, die einen glauben ließ, er hätte nie Wochenende. "Äh, wir suchen einen Gegenstand, den es vor fünfzig Jahren noch nicht gab", sagte Nik und konnte sich schon gut die niederschmetternde Antwort vorstellen.
"Hmm!", der Mann sah sie prüfend an. Er dachte: ‚Nicht schon wieder so ein Rentnerpaar! Können sich nie von Erinnerungen trennen. Das hat mir gerade noch gefehlt.' Dann drückte er seine Zigarette aus und antwortete schließlich: "Wissen Sie, ich glaube wir sollten unseren Namen ändern, damit hier nicht ständig Leute reinschneien, die denken wir seien ein Fundbüro. Und jetzt raus hier!"
"So ein mieser Typ!", meinte Tamara nachdem sie das Büro verlassen hatten. "Tja, das war's dann wohl." Plötzlich hörten sie hinter sich ein lautes Schniefen. Sie drehten sich um und trauten ihren Augen nicht. Auf einer sehr komisch aussehenden Parkbank saß ein blaues Schwein, das die beiden sehr stark an ein Sparschwein erinnerte, und weinte. Nik schubste Tamara an und sie gingen hinüber. Sie setzten sich neben das Schwein. Dieses hob den Kopf und schaute sie mit einem treuen Hundeblick an. "Was hast du denn?", fragte Tamara.
"Buahuah", heulte es. "I sott a Ladong Schparschweinla uff d'Erda brenga, abr do isch mai Raumschiff abgschtürzt. Schnief. Dia Schparschweinla send a völlig neua Erfendung mit audomatischem Zammahau-system ond a Berechnungsmaschele, die wo duat elles zammarechna was du ausgeba wilsch. Abr jetzt isch elles nemm do. Heul."
Es zog ein riesiges Taschentuch hervor, in das es sich unüberhörbar schnäuzte. Nik und Tamara schauten sich an. Auch das noch. Jetzt sollten sie sich auch noch mit einem Sparschwein, und dazu im schwäbischen Dialekt, unterhalten.
"Ja, wo ist denn dein Raumschiff jetzt?", fragte Nik. Das Schwein schnäuzte sich gleich nochmals und meinte dann: "Ha jo, woher soll i des denn wissa? I ben rausgschleudert wora, als i uff som Häusle landa wollt." "Auf einem Hochhaus?", fragte Nik.
"Ha jo, des wird's gwäsa sei", antwortete das Schwein.
"Oje!", meinte Tamara. "Wie sollen wir da rausfinden, auf welchem das ist?"
Sie schauten sich um, doch auf keinem Dach konnten sie ein Raumschiff entdecken. Plötzlich gab das Schwein ein lautes Quieken von sich. "I han's gfonda, do isch's doch!" Es zeigte mit seinem Vorderfuß auf das Hochhaus, in dem Nik und Tamara vergeblich Rat gesucht hatten.
"Jetzt ist nur noch die Frage, wie wir da raufkommen sollen", meinte Tamara und runzelte die Stirn. "Mit dem Aufzug vielleicht?", fragte Nik.
"Mensch, Nik, stell doch mal dein Gehirn an!", rief Tamara. "Der blöde Typ da im Erdgeschoss wird uns da ganz bestimmt nicht rauflassen. Und außerdem weißt du doch gar nicht, ob es in der Zukunft überhaupt Aufzüge gibt."
Plötzlich schlug sich Nik mit der Hand gegen die Stirn und deutete auf eine Leiter. "Denkt ihr das, was ich denke?", fragte er.
Nachdem sie die Leiter an ein geöffnetes Fenster im ersten Stock des Hauses gestellt hatten und hinaufgeklettert waren (was in Anbetracht des Alters von Nik und Tamara und dem Bauchumfang des Schweinchens etwas zögerlich vonstatten ging), befanden sie sich in einem riesigen Korridor. Sofort, aber vergeblich, hielten sie nach einem Aufzug Ausschau.
Als sie am Ende des Ganges angekommen waren, wären sie vor Schreck beinahe wieder zurückgelaufen. Dort standen doch tatsächlich, am Anfang einer gigantischen Wendeltreppe, zwei menschenartige Roboter, mit jeweils einem Zweisitzersofa auf dem Arm und warteten reglos, bis sie sich genähert hatten. Dann fing einer davon zu reden an: "Meine sehr verehrten Damen, Herren und äh, Schweine. Wenn Sie in eine der oberen Etagen gelangen wollen, bitten wir Sie Platz zu nehmen."
Nach einer kurzen Beratung taten sie das dann auch und schon ging es los. Die Roboter, die ihnen während des Aufstiegs auch noch Tee und Gebäck lieferten, schaukelten sie locker Etage für Etage hinauf. Oben auf dem Dach angekommen, trotteten die Roboter langsam wieder hinunter und die drei standen vor einem grünlich in der Sonne glitzernden Raumschiff.


Mit einem Freudensquieker stürmte das Schwein hinein. Tamara und Nik standen unschlüssig da und wussten nicht was sie tun sollten. Plötzlich entdeckte Tamara einen glänzenden Gegenstand auf dem Dach. Schnell hob sie ihn auf. Es war der Schlüssel. "Hey, Nik! Ich habe den Schlüssel entdeckt!", rief sie aufgeregt.
Nachdem das Schwein zur Überzeugung gekommen war, dass nichts fehlte, kam es wieder hinausgestürmt und warf sich um den Hals von Tamara und Nik. "I dank euch recht herzlich. Jetzt isch mir an großer Stoi vom Herza gfalla", rief es und ehe sie sich versahen war es wieder im Raumschiff verschwunden. Kurz danach kam es auch schon wieder mit einem sehr seltsamen Ding herausgestürmt, das es den beiden überreichte. "Do hen ihr a klois Dankschee. Ois von meine Sparschweinla. I hoff, ihr kennats braucha."
"Vielen Dank", sagte Tamara. "Jetzt haben wir endlich einen Gegenstand den es vor fünfzig Jahren noch nicht gegeben hat."
Plötzlich erschien wieder die Fee, die sie schon aus den vorigen Räumen kannten, und rief: "Schnell, die Zeit drängt! Ich werde euch wieder zurückwarpen. Beeilt euch!"
Die beiden verabschiedeten sich von dem Schweinchen und wurden kurz danach von der Fee zurückgewarpt. "Adele", hörten sie das blaue Schweinchen noch rufen, während sie wieder durch das schwarze Loch gezogen wurden.
Wie zuvor erfasste der Strudel die beiden Freunde mit unglaublicher Macht und brachte sie an den Ausgangspunkt ihrer Reise zurück. Erleichtert stellten sie fest, dass die Runzeln aus Tamaras Gesicht verschwunden waren und Nik wieder seine Haarpracht sowie alle Zähne besaß. Sie waren wieder jung, voller Tatendrang und nichts sollte sie aufhalten.
Schnell fanden sie das zugehörige Schloss für den zehnten Schlüssel und eilten zum magischen Buch, das bereites ungeduldig mit seinen Blättern raschelte. "Und, was habt ihr mitgebracht?"
Nik hielt ihm stolz ihre Errungenschaft entgegen. "Das ist alles?", schnappte das Buch enttäuscht. "Ein Sparschwein? Mehr hat die Zukunft nicht zu bieten? Na ja, Hauptsache, es erfüllt seinen Zweck. Los, schmeißt es in den Kessel."
Nik trat vor, doch als er das kleine Schweinchen in die brodelnde Flüssigkeit werfen wollte, erwachte es plötzlich zum Leben, fing an zu zappeln und fürchterlich zu quieken: "Loslassa! Loslassa, sag i. I will do et nei!"
"Was soll das denn", empörte sich das Buch. "Dieses Ding wehrt sich! Und es redet. Muss irgendein ausgefallener afrikanischer Dialekt sein. Wir werden einen Dolmetscher brauchen."
Noch während die drei ratlos das kleine Schweinchen anstarrten, hüpfte dieses voller Panik von Niks Hand, rannte wie ein geölter Blitz quer durch die Halle und suchte vergeblich nach einem sicheren Versteck. Schließlich blieb es erschöpft stehen und japste kläglich: "I ko nemme. Saget, was ihr wellet, ond mr kennet verhandla."
"Du musst uns helfen", flehte Tamara und ging vorsichtig vor dem kleinen Schwein in die Hocke. "Für unser Dämonen-Vertreibungsmittel brauchen wir dringend einen Gegenstand aus der Zukunft, und du bist das Einzige, was wir besitzen."
Nachdenklich scharrte das kleine Schwein mit seinen kurzen Beinen. "Ebbes aus der Zukunft, hosch gsagt?", wandte es sich an Tamara. "Dät eich au a Hämmerle reicha?"
"Wir nehmen alles", drängte Tamara hoffnungsvoll.
"Also, wenn ihr verschprechet, mi en Ruh zom lassa, no geb i eich mei audomatisches Zammahausyschtem." Nachdem Nik und Tamara ihm überschwänglich ein Leben in Freiheit versprochen hatten, öffnete das Schwein eine Klappe in seinem runden Bauch und überreichte ihnen stolz einen kleinen Hammer.
Erleichtert warfen die Kinder das Teil aus der Zukunft in die glasklare Flüssigkeit, die augenblicklich von schimmernden Schlieren durchzogen wurde.
"Nun fehlt nur noch die Macht der Finsternis", sprach das Buch beinahe feierlich. "Ihr findet sie in dem Land der Finsternis, der Heimat der Dämonen. Von dort sind sie zu uns gekommen und dorthin wollen wir sie wieder verbannen. Der Herrscher dieses schrecklichen Landes ist ein zweiköpfiger Riese. Bringt etwas aus seinem Besitz. Ein Symbol seiner Macht. Aber hütet euch vor seiner Hinterlist und Bosheit. Und denkt an den elften Schlüssel!"
Der zehnte Glockenton verhallte gerade, als Nik und Tamara eine der beiden noch verbliebenen Türen öffneten. Hand in Hand traten sie auf das schwarze Nichts zu, das sich dahinter erstreckte, und auf die glühenden Punkte, die darin aufflackerten ...






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