Die verlorene Zeit

2. Fortsetzung von Sabine
Langsam gingen die beiden auf die Ruine zu, um den Ursprung der unheimlichen Geräusche ausfindig zu machen.
"Woher mag das Stöhnen nur Kommen?", fragte Babs mit unsicherer Stimme. "Keine Ahnung", flüsterte Mike. Stumm setzten sie ihren Weg fort. Je näher die beiden herankamen, desto lauter wurden die Geräusche und vor ihnen ragten die Mauern empor, die das Fundament einer mächtigen Burg gewesen sein mussten. Dünne Nebelschwaden umhüllten die Burg wie ein düsteres Kleid.
Doch da sprang plötzlich ein kleines Wesen mit großen schwarzen Augen aus dem Gebüsch. Babs und Mike wollten wegrennen, aber das Wesen packte jeden an einem Zipfel der Jacke und zog sie mit sich ins Unterholz.
"Kommt schnell mit auf den großen Baum hier. Ich tu euch nichts zuleide. Ja, nichts zuleide", krächzte der Gnom.
Auf dem Baum war ein kleines Baumhaus angebracht.
"Ich bin Funkelstern. Ja, Funkelstern. Wer seid ihr?", fragte das Wesen.
Mike, der sich als erster wieder gefasst hatte, erklärte: "Wir kommen aus einer anderen Welt und suchen eine verschwundene Ziffer und einen geklauten Namen eines Freundes."
"Eines Freundes? Wer ist dieser Freund? Na, wer ist es?"
"Er sieht ungefähr genauso aus wie du. Nur etwas dürrer", beschrieb Babs.
"Da kenne ich nur einen. Nur einen! Meinen Cousin Schillerauge."
"Schillerauge heißt er?", fragten die beiden, die es kaum fassen konnten, den Namen schon ausfindig gemacht zu haben. "Kannst du uns auch bei der Suche nach der Ziffer behilflich sein?", bettelte Mike. "Nein, nein, nein. Viel zu gefährlich. Zu gefährlich! Aber ich kann euch einen Geheimgang in die Ruine, meinen alten Wohnsitz, zeigen. Ja, ich zeige ihn euch."
Der Geheimgang endete im zerfallenen Keller der Ruine.
"Bis hierhin und nicht weiter gehe ich. Nein, nicht weiter. Grüßt auch meinen lieben Cousin schön, wenn ihr hier heil wieder rauskommt. Ja, ja", kicherte Funkelstern. Und schon war er wieder davongesprungen.
Im Schutz der Dunkelheit schlichen die beiden Freunde durch die Gänge. Auf einmal hörten sie ein lautes Stöhnen und Trampeln. Gleich darauf stapfte ein Riese mit roten Augen auf sie zu. Schnell duckten sie sich hinter einen Schrank. Aber es war zu spät. Der Riese schrie mit dröhnender Stimme: "Was war das? Haltet sie!"
"Renn um dein Leben! Mir nach!", rief Mike Babs zu.
Mike und Babs rannten zwischen den Beinen des Riesen durch und es begann eine wilde Verfolgungsjagd durch die Überreste der Burg. Auf einmal waren sie in einem hell erleuchteten Saal angelangt, der noch vollständig erhalten war. Der Thronsaal!
Babs' Blick fiel als erstes auf eine kleine Glasvitrine, in der, auf einem samtenen roten Kissen, die Ziffer 2 lag. "Da!", rief sie, zeigte darauf, nahm Mike bei der Hand und rannte gerade drauf los. In diesem Moment erschien schon die hässliche Fratze des Riesen in der Tür.
"Ihr werdet diesen Saal nicht lebend verlassen!", hallte seine Stimme von den Wänden wider. Hilflos standen die Freunde nun vor der Vitrine. Sie schauten sich suchend um. Da hatte Mike einen rettenden Einfall und zückte sein Taschenmesser. Babs starrte mit weit aufgerissenen Augen auf den Riesen, der immer näher wankte.
"Los, mach schon", zischte sie ihrem Freund zu. Dieser schlug mit dem Messer, welches ja schon im Urwald bei der Suche nach der ersten Ziffer von großem Nutzen gewesen war, die Scheibe ein. Babs schnappte sich die Ziffer 2 und die Freunde wurden wieder von einem gewaltigen Sog erfasst und auf den Dachboden zurück in ihre Welt geschleudert. Babs setzte sofort die Ziffer in die Uhr und Mike stolperte zu dem Wesen im Schrank und verkündete ihm: "Dein Name ist Schillerauge!"

Überleitung von Astrid Nagel :

"Schillerauge!", jubelte der kleine Wicht überglücklich und machte vor Freude einen gewagten Luftsprung. "Schillerauge! Was für ein wunderschöner Name. Ich trage ihn, weil meine schwarzen Augen im Mondlicht überirdisch schön schillern. Zu Hause waren deshalb alle neidisch auf mich, selbst mein Lieblingscousin, der gute Funkelstern. Aber jetzt gibt es kein Mondlicht mehr."
Die Freude verschwand aus seinem Gesichtchen. "Wir sind gefangen in einem endlosen Tag. Niemals wieder werde ich den Mond sehen, niemals wieder in seinem Silberlicht schweben, niemals wieder ..."
"Hör schon auf", unterbrach ihn Mike ungeduldig. "Jammern bringt den Mond auch nicht zurück. Wir sollten lieber nach der nächsten Ziffer suchen."
"Du hast recht", stimmte Schillerauge mit einem tiefen Seufzer zu. "Aber die 12 Ziffern allein werden uns nicht retten. Sobald wir die Uhr repariert haben, wird dieser elende Zeitengeist zurückkehren - und dann wird es für uns ungemütlich werden. Sehr ungemütlich."
"Wie können wir das verhindern?", fragte Babs unruhig.
"Wir müssen ihn überrumpeln. Mit einer List."
"Und wie soll die aussehen?"
"Nun, hm, äh ... keine Ahnung", gestand Schillerauge kleinlaut.
"Was heißt hier ‚keine Ahnung'", polterte Mike empört los. "Du hast versprochen, uns zu helfen."
"Will ich ja auch, aber ich bin schließlich nicht allwissend. Wirklich helfen könnte uns nur einer: der Zeitkristall. Wenn wir den hätten ..."
Babs stutzte, rannte zu dem alten Sessel und kehrte kurz darauf mit ihrer Eroberung aus der ersten Welt zurück. "Meinst du vielleicht diesen Kristall? Wir haben ihn dem Zeitgnom abgeluchst."
"Das ist er", staunte das kleine Gespenst überrascht. "Ihr seid besser, als ich dachte."
Doch Mike dämpfte sogleich seine Begeisterung: "Super, dann besitzen wir also diesen geheimnisvollen, mächtigen Zeitkristall. Blöd ist nur, dass der, im Gegensatz zu dir, stumm wie ein Fisch ist. Auch der Typ in der 1. Welt konnte ihn nicht zum reden bringen."
"Er wird auch nicht reden, solange er ausgeschaltet ist", erklärte Schillerauge mit wichtiger Miene. "Sobald man ihn aktiviert, verfärbt er sich grün und wird überaus gesprächig. Man braucht nichts weiter als einen kleinen, magischen Zauberspruch."
"Und, wie lautet der?", fragten Mike und Babs wie aus einem Mund.
"Nun, hm, äh ... keine Ahnung."
"Soweit waren wir doch schon mal", maulte Mike genervt. "Gibt es vielleicht irgendetwas, von dem du eine Ahnung hast?"
"Immerhin habe ich mehr Ahnung als du", protestierte der Kleine empört. "Zum Beispiel weiß ich, dass die dritte Ziffer in einer Märchenwelt gelandet ist. Vielleicht trefft ihr ja dort auf jemanden, der sich in magischen Sprüchen auskennt und euch weiterhilft."
Mike und Babs erkannten, dass es an der Zeit war, zu handeln. Um ihrer Rettung ein Stück näher zu kommen, brauchten sie dringend die nächste Ziffer und den Zauberspruch. Mutig berührten sie den dritten Stein des Spiegels und schossen Augenblicke später ihrem neuen Abenteuer entgegen. Die Landung war reichlich unsanft. Noch während sie sich ihre schmerzenden Hinterteile rieben und sich neugierig umsahen, erkannten sie überrascht, in welchem Märchen sie gestrandet waren ...





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