Die verlorene Zeit

12. Fortsetzung von Anika Lisa
Grüne Blitze umgaben sie und sie flogen durch den schwarzen Tunnel in eine andere Welt. Sie waren in einer Stadt gelandet. Doch es war eine Stadt, wie sie sie noch nie gesehen hatten.
Die Häuser waren grau und verfallen. Und die Menschen auf den Straßen hatten ewige Schatten im Gesicht. Wenn Mike und Babs einen von ihnen ansahen, fühlten sie sich, als würde ihnen ein Strahl von eiskaltem Wasser in den Magen geschüttet. Babs und Mike liefen mit gesenkten Köpfen durch die Straßen, doch selbst der Anblick des Bodens füllte ihre Köpfe mit Traurigkeit.
Babs stiegen Tränen in die Augen.
Mike stupste sie an und sagte: "Denk daran. Wir müssen nur noch die zwölfte Ziffer finden."
"Und einen von denen da zum Lachen bringen", erwiderte Babs.
"Zwing dich einfach zum Lachen", flüsterte Mike und stapfte hoch erhobenen Hauptes weiter. Schließlich kamen sie in eine Straße, in der ein besonders baufälliges Haus stand. Goldene Lettern hoch über dem Tor verkündeten "Haus zur Traurigkeit".
"Nummer 12!", schrie Babs und sprang in die Luft "Mike! Da ist die 12!"
"Schön", sagte Mike und blickte Babs spöttisch an. "Und wie sollen wir da hoch kommen?"
Babs zuckte die Achseln. Mike seufzte und lief auf das große Tor zu.
"Hey! Wo gehst du hin?", rief Babs, doch Mike war schon durch die Tür verschwunden. Babs schüttelte den Kopf und rannte die Stufen hinauf. Es war eine riesige Eingangshalle, in der Babs gelandet war. Mike war schon durch die Halle gelaufen und stand nun vor einer Tür, über der stand:
Wollt voll Hass ihr sein im Leben,
tretet ein, so schnell ihr könnt.
Seid auch ihr dem Hass ergeben,
sei hier viel Schlechtes Euch vergönnt.
"Hört sich nicht gerade einladend an", sagte Mike.
"Wir müssen rein!", sagte Babs bestimmt und öffnete die Tür. Ein Schwall von Hass und Eifersucht kam ihnen entgegen, drang in sie ein und umschloss ihre Herzen. Babs merkte plötzlich, dass sie eifersüchtig auf Mike war, weil er eine Uhr aus Silber hatte, und Mike hätte Babs am liebsten den Hals umgedreht. Weshalb, wusste er selbst nicht.
"Tür zu!", schrie Babs.
"Mach's doch selber!", brüllte Mike zurück.
Sie funkelten sich an, dann schlugen sie gleichzeitig die Tür zu. Der Hass und die Eifersucht verschwanden. Babs atmete auf.
"Das war das Schlimmste, was mir je passiert ist", sagte sie und drehte sich um. Ihre Augen weiteten sich und ein Lächeln huschte über ihr angespanntes Gesicht. Auch Mike drehte sich um. Vier Männer trugen eine Bahre mit Rand. Auf dem Rand stand "Zu fröhlich".
"Uff! Ich dachte schon, es gibt hier gar keine glücklichen Leute", seufzte Babs und lief auf die Bahre zu, doch sie hatte sich getäuscht. Auf der Trage lag ein Kind von etwa fünf Jahren. Es hatte einen Schmollmund, doch auf dem Gesicht lag kein Schatten. Babs seufzte.
"Komm, versuchen wir's", sagte Mike.
Sie liefen neben der Bahre her, schnitten Grimassen, guckten blöde und rollten mit den Augen. Aber es half nichts. Das Mädchen behielt seinen Schmollmund weiter.
Die Männer, die das Mädchen trugen, hatten alle dunkle Ringe unter den Augen und Tränen liefen über ihre Wangen, doch gleichzeitig sahen sie auch wütend aus. Es war ein trauriger Anblick doch irgendwie auch ein lustiger. Babs musste grinsen. Doch plötzlich wurde sie wieder traurig. Dann wieder albern. Es wechselte hin und her, bis beide schließlich in schallendes Gelächter ausbrachen. Das Mädchen blickte auf. Der Schmollmund verschwand und ganz allmählich verformte sich der Mund zu einem Lächeln. Dann stimmte es mit ein in das Lachen von Mike und Babs. Mike blickte auf. Die Schatten waren aus den Gesichtern der Träger verschwunden. Das Gebäude war hell erleuchtet und draußen hörte man Menschen lachen.
"Ihr habt uns erlöst", rief einer der Träger. "Uns und das ganze Volk. Jetzt habt ihr jeden Wunsch offen!"
"Die 12!", riefen Mike und Babs gleichzeitig. "Die 12 über ihrem Tor. Wir müssen sie haben."
Einer der Träger nahm Mike und Babs bei der Hand und führte sie nach draußen. Doch Mike sah noch etwas über dem Tor. Ein weißes Herz.
"Äh, können wir das vielleicht auch haben?", fragte er.
"Alles", sagte der Träger mit freudiger Stimme.
"Dass wir nicht gleich drauf gekommen sind, sie mit Lachen glücklich zu machen", flüsterte Babs. Sie nahmen die Ziffer und das Herz entgegen und wurden zum letzten Mal durch den Tunnel mit den grünen Blitzen geschleudert.

Überleitung von Astrid Nagel :

"Wir haben es geschafft", jubelte Babs und streckte Schillerauge stolz die Ziffer 12 entgegen.
"Schnell, lass uns die Uhr reparieren, damit dieser Spuk endlich vorbei ist", drängte Mike. Ungeduldig griff er nach der alte Taschenuhr und machte sich daran die Ziffern einzusetzen, die sie unter so großen Gefahren gesammelt hatten.
Ein leichter Wind kam auf.
"Sei vorsichtig, das wird ihn anlocken", warnte Schillerauge und blickte sich ängstlich nach allen Seiten um.
"Und wenn schon", konterte Mike. "Der Typ besteht doch nur noch aus einer Wolke winziger Geisterchen. Wird schon nicht so schlimm werden."
Der Wind nahm an Stärke zu. Das alte Dachgebälk über ihren Köpfen knarrte schauerlich unter der Kraft einer unsichtbaren Macht.
"Geschafft", seufzte Mike schließlich und hielt triumphierend die reparierte Uhr in die Höhe. Doch seine Freude währte nur kurz. Mit brüllender Gewalt fegte ein Sturm durch den Dachboden. Er riss an den Kleidern der Kinder und wirbelte den erschrockenen Schillerauge erbarmungslos durch die Luft.
Unter schaurigem Kreischen raste eine unförmige Nebelgestalt auf die vor Schreck erstarrten Kindern zu. Es war der wiedererstarkte Zeitengeist und er schien grausamer und wütender als jemals zuvor.
"Nun ist es um euch geschehen!", brüllte er hasserfüllt.
Doch Mike ließ sich nicht einschüchtern. Blitzschnell brachte er die Uhr in Sicherheit, griff nach den beiden Symbolen des Todes und streckte sie dem schrecklichen Geist entgegen.
"Sieh mal, was ich hier Feines habe", lockte er und näherte sich gleichzeitig Schritt für Schritt dem Kochtopf, in dem sich der magische Strudel unermüdlich drehte. "Na komm schon, mein Kleiner. Hol es dir."
Bevor Mike jedoch seinen Plan vollenden konnte, geschah etwas Unerwartetes: Das graue Nebelungeheuer stürzte sich auf ihn, umhüllte ihn und raubte ihm die Luft zum Atmen. Bei dem verzweifelten Versuch sich zu wehren, entglitten Mike das schwarze Kreuz und die Maske.
Entsetzt sah Babs, wie Mike zu Boden sank und der Geist sich ihr zuwandte. Sie fühlte das weiße Herz in ihrer Hand, das Symbol des Glücks. Es war ihre letzte Chance. Nur wenige Meter trennten sie von dem magischen Strudel. Babs rannte los, doch schon nach den ersten Schritten hatte das Nebelgespenst auch sie erreicht. Mit aller Kraft versuchte Babs sich zu wehren, doch der ungleiche Kampf schien aussichtslos.
"Das ist das Ende", dachte sie verzweifelt, als plötzlich ein ungewöhnliches Geräusch zu ihr drang: ein Lachen, hell und glücklich, das mitten aus der Tiefe des weißen Herzens zu perlen schien. Irritiert hielt der Zeitengeist inne und schüttelte sich angewidert. Babs fühlte, wie die lähmende Umklammerung kurz nachließ. Mit letzter Kraft schleuderte sie das Herz in den magischen Strudel.
Wieder erklang das lockende Lachen. Mit einem wütenden Aufschrei stürzte sich der Zeitengeist in den rotierenden Schlund des Strudels. Ein letztes tiefes Gurgeln entstieg dem Topf, dann kehrte Ruhe ein.
Nur das Prasseln des Regens war zu hören. Und Schritte, die sich dem Dachboden näherten. Während Schillerauge erschrocken in seinem Schrank Zuflucht suchte, blickten Babs und Mike ängstlich auf die Tür, die sich langsam öffnete.
"Wo steckt ihr bloß", murrte Chris ungeduldig und trat zu seinen Freunden. "Ich darf die ganze Arbeit machen und ihr trödelt hier oben herum. Nach all dem Stress muss ich wohl kurz eingenickt sein. Ich hatte einen ziemlich bescheuerten Traum und als ich aufwachte lag eine zertrümmerte Harfe neben mir. Was ist hier eigentlich los?"
"Das werden wir dir gleich ausführlich erzählen", meinte Mike mit einem breiten Grinsen im Gesicht. "Denn jetzt haben wir Zeit. Viel Zeit ..."








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