6. Fortsetzung von Katrin Durst

Mühsam kämpften sie sich einen steilen Weg hinauf und nahmen gerade noch verschwommen wahr, dass sie an einem grünlich schimmernden See vorbeikamen. Es kam ihnen so vor, als wären sie schon Stunden gelaufen, da erblickten sie endlich eine kleine windschiefe Hütte auf einer Klippe.
"Na endlich", seufzte Tamara. "Ich dachte schon, es gäbe hier gar kein Lebewesen."
Tamara klopfte an die Tür.
"Herein", sagte eine rauchige Stimme aus dem Inneren der Hütte. Sie öffneten die Tür und traten ein. Neugierig blickten sie um sich. In diesem Haus gab es nur ein Zimmer, ein alter Herd stand in der einen Ecke, sowie ein kleines Bett in der anderen. Aber wo war der Besitzer dieses Hauses?
"Hallo! Endlich mal wieder Besuch! Ich heiße Sturm", krächzte die gleiche Stimme. Ein uralter Mann trat aus dem Halbschatten heraus. Sein langer Bart hing fasst bis zum Boden hinunter, er hatte einen windschiefen Hut auf dem Kopf und lange, spitze Fingernägel. Hinter buschigen Augenbrauen zwinkerten ein paar lustige Augen hervor.
"Nun, worum geht's?", fragte er schelmisch.
"Das wissen wir auch nicht so genau", sagten Nik und Tamara und zuckten ratlos mit den Schultern. "Wir sollen nach des ‚Sturmes Horn' suchen."
"Des Sturmes Horn! Mmmmh ..." Der Alte kratzte sich am Kopf. "Wisst ihr, das ist eine schwierige Sache. Das Sturmhorn ist eine Art Windmaschine. Wenn man hinten hineinbläst, kommt vorne ein Sturm hinaus. Ich besaß dieses Sturmhorn, bis es mir die Wetterhexe Thyra gestohlen hat", sagte der Alte grimmig. "Jetzt benutzt sie es, um Unwetter zu produzieren, wie ihr draußen seht!"
Plötzlich tauchte die Fee, die sie schon von den letzten Abenteuern her kannten, auf. "Hallo!", sagte sie. "Ich kenne euer Problem und werde versuchen euch zu helfen."
"Aber wie willst du das machen?", fragte Nik.
"Ich habe ein bisschen bei der Hexe für euch spioniert. Und habe herausgefunden, dass sie sich einen Trank gebraut hat, der sie schöner machen soll. Eigentlich ist sie nämlich sehr hässlich. Diesen Trank könnten wir uns zu Nutze machen, weil es eine bestimmte Nebenwirkung gibt: Sobald sie sich im Spiegel sieht, vergeht die Wirkung des Trankes und sie fällt für zehn Minuten in Ohnmacht. Das heißt also, wir müssen uns mit einem Spiegel zu ihr schleichen und sobald sie ohnmächtig geworden ist des Sturmes Horn suchen. Selbstverständlich müsst ihr euch und den Spiegel verkleiden, beziehungsweise verstecken. Am besten, ihr gebt euch als Händler aus, die Hexengerümpel verkaufen. Und ihr nehmt einen Wagen, der vorne eine Öffnung hat, auf dem ihr den Spiegel verstecken könnt. Einer von euch bleibt auf dem Wagen und dreht im richtigen Augenblick den Spiegel durch die Öffnung zur Hexe hin. Aber Vorsicht! Lasst euch nicht von ihrer Schönheit einlullen."
"Aber woher sollen wir den Wagen kriegen?", fragte Tamara.
"Genau!", sagte Nik. "Und wer weiß denn, ob die Hexe überhaupt darauf hereinfällt."
"Um die Ausrüstung braucht ihr euch keine Sorgen zu machen. Darum habe ich mich schon gekümmert. Alles steht draußen vor der Tür", kicherte die gute Fee. "Und die Hexe fällt garantiert auf alles herein, wenn ihr nur ein bisschen nach Schwefel stinkt. Denn wie alle Hexen liebt sie diesen Gestank. Also, kann's losgehen?" "Na klar!", riefen Nik und Tamara.
Sie liefen zusammen vor die Hütte und blieben sprachlos stehen. Da stand tatsächlich ein richtiger Händlerwagen mit einem Pferd davor. Nachdem sich Nik und Tamara wieder gefangen hatten, entdeckten sie im Inneren des Wagens einen großen Spiegel. Ein paar Sprühflaschen befanden sich auch noch dort. "Das sind keine normalen Sprühflaschen", erklärte die Fee. "Sie enthalten eigentlich nur Wasser. Aber wenn ihr euch damit einsprüht, stinkt ihr fürchterlich nach Schwefel. Und das hier müsst ihr anziehen, damit ihr wie richtige Hexenhändler wirkt."
Sie hielt einige zerschlissene Kleidungsstücke hoch. Nik und Tamara zogen sich schnell die alten Klamotten über, sprühten sich mit dem Schwefelduft ein und betrachteten sich grinsend gegenseitig.
"Macht's gut! Ich verlasse mich auf euch", sagte der Alte. Die beiden stiegen in den Wagen und winkten kurz zum Abschied. Tamara wollte schon die Zügel des Pferdegespanns in die Hand nehmen, da rief die Fee: "Ach was! Das geht doch viel zu langsam. Ich warpe uns einfach hin. Also, alles klar? Es geht los. WARP!!!"
Die Welt begann sich zu drehen. Doch bevor es ihnen schwindlig wurde, setzten sie wieder auf festem Boden auf.
Verwundert blickten sie sich um. Sie waren mitsamt dem Wagen vor einem Hexenhaus gelandet. "Also gut", flüsterte Tamara. "Ich verstecke mich im Wagen und stelle dann rechtzeitig den Spiegel auf. Du klopfst an und lenkst sie ab."
"Okay", raunte Nik mit klopfendem Herzen. "Los geht's!"
Nik ging zur Tür und klopfte mit einem goldenen Türklopfer an. Einmal, zweimal, dreimal ... Es rührte sich nichts.
"Oh, nein! Hoffentlich ist sie zu Hause", dachte Nik. Plötzlich bewegte sich etwas. Mit angehaltenem Atem wartete er vor der Tür. Jetzt wurde sie geöffnet.
Nik war einfach sprachlos. Das was da vor ihm stand war doch keine Hexe, sondern eine wunderschöne Frau. Ihre langen blonden Haare glänzten in der Sonne, sie hatte mindestens zwei Zentimeter lange Wimpern und hellblau strahlende Augen. Ihre langen Beine und ihre gertenschlanke Figur machten sie noch um einiges hübscher. Nik war vollkommen bedröppelt. Wie konnte jemand, der so hübsch war, eine böse Hexe sein?
"H ... H ... Hallo", stotterte er. Und dann fiel ihm plötzlich nicht mehr ein was er sagen wollte. Ihm war nur noch eines klar: Er wollte nur noch ihr dienen und nichts anderes. Das Vorhaben mit dem Spiegel hatte er schon längst vergessen.
"Hallo. Stimmt irgendetwas nicht?", säuselte die Hexe.
"Wrgf! Ähh, doch doch", antwortete Nik. "Aber ihr seid so wunderschön!!!"
Im Inneren des Wagens schlug sich Tamara gegen die Stirn. "Dieser Obertrottel macht doch alles falsch!", dachte sie beunruhigt und lugte durch einen Schlitz nach draußen. "Es wird höchste Zeit, dass ich den Spiegel aufstelle bevor sie ihn ganz eingewickelt hat."
Sie versuchte verzweifelt den Spiegel anzuheben, doch er war einfach zu schwer. Inzwischen hing Nik schon an den Lippen der Hexe und lächelte ihr mit verschleiertem Blick zu. Tamara sammelte noch mal all ihre Kräfte und hob den Spiegel an. Doch schon nach wenigen Minuten ließen ihre Kräfte nach. Da kam plötzlich die gute Fee hineingeschwebt. Sie hatte die Lage schon verstanden.
"Ich versuche den Spiegel leichter zu zaubern", raunte sie Tamara zu. Sie sprach einen Zauberspruch. Tamara versuchte es noch einmal und siehe da, der Spiegel war auf einmal so leicht wie eine Feder. Schnell richtete ihn Tamara auf die böse Hexe und zog vorne die Plane des Wagens ab.
Es tat einen lauten Knall und Tausende von rosa Rauchwölkchen stoben auseinander. Tamara starrte verdutzt nach draußen. Die Hexe hatte jetzt ihre wahre Gestalt angenommen und lag ohnmächtig auf dem Boden. Sie war mit unzähligen Warzen überdeckt und ihre einst so schöne Haut war jetzt faltig und trocken.
"Schnell, beeil dich!", rief die gute Fee. Tamara rannte so schnell sie konnte ins Hexenhäuschen und suchte darin nach dem Sturmhorn. Die gute Fee kümmerte sich inzwischen um Nik, der noch immer völlig verdattert dastand. In der Zwischenzeit hatte Tamara das Horn gefunden und eilte damit nach draußen.
"Schnell, in den Wagen", keuchte sie. "WARP!", rief die Fee.
Wieder begann sich alles zu drehen. Und kurz darauf setzten sie wieder vor der Hütte des Alten auf. Dieser empfing sie freudig. Tamara hielt triumphierend das Sturmhorn hoch und der Alte klatschte begeistert in die Hände.
"Ihr habt es also tatsächlich geschafft!", jubelte er. "Kommt erst mal herein."
Sie gingen alle in die windschiefe Hütte des Alten. "Ich kann euch gar nicht sagen, wie dankbar ich euch bin. Als Dankeschön leihe ich euch das Sturmhorn für eine Weile aus. Die Fee kann es mir ja wieder zurückbringen. Ach ja, den habe ich mal gefunden. Ich weiß nicht, ob ihr ihn gebrauchen könnt, aber wenn ja, könnt ihr ihn gerne haben." Der Alte hielt einen Schlüssel hoch.
"Natürlich können wir den gebrauchen!", platzte es aus Tamara heraus. Aber wir müssen uns beeilen, die Stunde ist bald um."
"Ich warpe euch schnell zum Ausgang", meinte die gute Fee. Nik nahm das Sturmhorn in die eine und den Schlüssel in die andere Hand und machte sich bereit zum Warpen. Sie verabschiedeten sich vom alten Mann und wurden kurz darauf zum Ausgang gewarpt.
Als der Warpschwindel nachließ, fanden Nik und Tamara sich in der Eingangshalle des verwunschenen Hauses wieder. Doch ihre anfängliche Erleichterung, der hässlichen Wetterhexe Thyra entkommen und endlich wieder in Sicherheit zu sein, wich nach und nach einem beklemmenden Gefühl. Irgendetwas stimmte hier nicht. Sie spürten es mit jeder Faser ihres Herzens. Irritiert blickten sie auf Bruno, der sie nicht wie gewohnt freudig bellend begrüßte, sondern mit eingezogenem Schwanz zu Füßen seines Herrchens kauerte und leise vor sich hin winselte.
"Was ist los?", wandte sich Nik beunruhigt an den alten Zipfelmützenmann, doch dieser antwortete nicht. Mit schreckensweiten Augen stierte er auf etwas, das sich hinter Nik und Tamara befinden musste. Verunsichert drehten sich die beiden Kinder um - und erstarrten. Ihre Blicke hefteten sich wie hypnotisiert auf das Unvorstellbare, das sich vor ihren Augen abspielte und gleichzeitig fühlten sie eine abgrundtiefe Enttäuschung. Bedeutete dies das Ende ihrer verzweifelten Versuche, diesem verteufelten Haus zu entkommen? Waren all die Abenteuer, die sie bisher gemeinsam bestanden hatten, umsonst gewesen? Hatten sie den Kampf verloren?

Fassungslos blickten Nik, Tamara und der Zipfelmützenmann auf die wabernden Gestalten, die sich ihnen langsam näherten und unaufhaltsam einen Ring des Grauens um sie zogen. Bleiche Wesen, die ihre Gefangenen mit glühenden Augen anglotzten, hässliche Fratzen, die ihre schwarzen Münder zu einem heiseren Stöhnen öffneten, gesichtslose Nebelfetzen, die ständig neue erschreckende Formen annahmen. Und in der Mitte dieses ganzen Wahnsinns jener grausige Dämon, der dieses Haus verzaubert hatte, und der nun den verängstigten Bewohnern hasserfüllt entgegenschwebte.
"Was geht hier vor sich?", zischte er und obwohl es nicht mehr als ein stimmloses Wispern war, trieb es doch den Angstschweiß auf die Gesichter der Angesprochenen. "Ich fühle, dass hier etwas Verbotenes geschieht. Ich spüre gefährliche magische Schwingungen. Meine Freunde sind beunruhigt." Das unheilvolle Stöhnen schwoll an.
Verstohlen schielte Nik zu dem sprechenden Buch und dem Kessel, die im Augenblick noch von dem zitternden Körper des Zipfelmützenmannes verdeckt wurden.
"Redet, oder ihr werdet es bereuen", fuhr der Dämon fort und ein eisiger Luftzug streifte Niks Gesicht. Er fühlte, wie sich Tamaras Hand in die seine stahl, auf der Suche nach Trost und Halt. Dann ging alles blitzschnell.
"Ihr habt es so gewollt", hauchte der Dämon und breitete seine Arme aus. Ein silberner Strahl schoss aus seinen funkelnden Augen, traf zuerst den Zipfelmützenmann, dann Bruno und ließ beide augenblicklich zu Stein erstarren.
Niks Gedanken überschlugen sich. Fieberhaft suchte er nach einem Ausweg. Doch erst als sich die schrecklichen Augen des Dämons drohend auf Tamara richteten, durchzuckte ihn der rettende Einfall wie ein heißer Blitz. Ungestüm riss er des Sturmes Horn an seine Lippen und blies mit aller Kraft hinein.
Der Orkan, der augenblicklich losbrach, war überwältigend. Mit ungeheurer Macht zerrte er an Nik und Tamara und wirbelte gleichzeitig die überraschten Geister wild durcheinander. Weiter und weiter blies Nik. Seine Wangen brannten, Tränen traten aus seinen Augen, doch er hörte erst auf, als auch das letzte der Gespenster die Flucht ergriffen hatte.
Der Sturm legte sich und trügerische Ruhe kehrte ein. Besorgt eilten Nik und Tamara zu dem Alten und seinem Hund, doch hier kam jede Hilfe zu spät.
"Puh, das war knapp", schnappte das magische Buch zu ihren Füßen. "Los kommt schon, ihr zwei Unglücksraben. Den beiden könnt ihr sowieso nicht helfen. Füllt das zweite Element in den Kessel und besorgt schleunigst das dritte. Diese Gruselgestalten werden sicher bald wieder hier auftauchen."
Nur ungern wandten sich Nik und Tamara von ihren Freunden ab. Aber das Buch hatte Recht. Sie brauchten den Zaubertrank und zwar so schnell wie möglich.
"Wie lautet die dritte Zutat?", drängte Tamara deshalb ungeduldig, während Nik mit einem sanften Wind aus dem Sturmhorn die glimmende Drachenspucke im Kessel wieder zum Glühen brachte.
Raschelnd öffnete sich das magische Buch und die liebliche Stimme erklang:
"Es gibt der Elemente vier,
die ersten beiden haben wir.
Als Element der Nummer drei
muss nun das Wasser schnell herbei.
Drum sputet euch und bringt genau
drei Tränen einer Meerjungfrau."
Nik und Tamara wechselten einen raschen Blick, dann traten sie auf eine der verbliebenen Türen zu. Auch diese Aufgabe würde wieder gefährlich werden, das spürten sie instinktiv. Aber hatten sie eine andere Wahl? Entschlossen öffneten sie die Tür. Die Welt dahinter lag im Dunkeln und nur das leise Rauschen von Wellen war zu hören. Vorsichtig machten die beiden einen Schritt nach vorne und stürzten schon im selben Augenblick kopfüber ins Wasser ...






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