8. Fortsetzung von Valentin Dietrich

Langsam in das scheinbar undurchdringliche Weiß von Nebel eindringend, tapsten sie vorwärts. Nik konnte Tamara nur schemenhaft erkennen und ihr ging es genauso. Tamara bemerkte in die dumpfe Stille hinein: "Wir müssen uns aneinander festhalten, damit wir uns nicht verlieren."
Der Junge folgte willig dem Vorschlag und daher ging es nun in enger Körperverbindung weiter. Zeit von stillem Weiterstapfen verging, dann, erst nur wie ein heller Schimmer, schließlich aber in voller Gestalt, kristallisierte sich die kleine Fee aus dem Nebel.
"Halt, wartet, wollt ihr etwa in den ewigen Tiefen des Morastes verschwinden? Hier, nehmt das, es wird euch gegen die schlingenden Massen helfen", sprach sie und überreichte den Kindern jeweils eine Spraydose. Nik las verwundert das Etikett: "Insekten-Spray!"
"Hä! Was sollen wir denn damit?" Doch die Frage kam bei der Fee nicht mehr an, sie war bereits verschwunden.
"Na ja, was soll's?!", wandte Tamara ein. "Komm, gehen wir weiter!"
Sie waren kaum zwei Schritte gegangen, da bohrten sich plötzlich kleine Widerhaken in ihre Körper und zogen sie in die sumpfige Tiefe. Die schlingenden Massen, schoss es Tamara durch den Kopf. Das war es, was die Fee gesagt hatte. Ohne noch lange überlegen zu müssen, begriff sie, dass es Millionen von Insekten sein mussten, die sie mit Widerhaken in die Tiefe rissen.
Sie rief zu Nik: "Das Insektenspray!", und griff nach ihrem eigenen. Nik verstand nicht sofort, doch seine Hand hatte sich schon reflexartig in Richtung Spray bewegt. Die Feuchtigkeit des Mittels kroch aus den beiden Sprays der Kinder und betäubte das Leben um sie.
Augenblicklich ließ der Schmerz nach, aber sie verloren auch ihren Halt. Ungehindert fielen sie herab. Tamara warf einen Blick nach unten. Doch es war nur weißer Dunst zu erkennen. Nach einigen schrecklichen Sekunden freien Falls landeten sie plötzlich in einer klebrigen Masse.
"Tamara, bist du okay?", war das Erste, was wieder erklang.
"Ja! Noch ...!"
Eine riesige Metallstange bewegte sich plötzlich auf sie zu.
"Schnell zur Seite!", rief Nik und auch er schwamm in der Flüssigkeit beiseite. Die Stange war weg, doch plötzlich entstand ein Sog von gewaltiger Größe. Dieses Mal war es Tamara, die agierte: "Ich glaube ich weiß wo wir gelandet sind: im Kochtopf der Sumpfbewohner!"
Nik sperrte Mund und Augen auf, sie hatte Recht! Plötzlich kam eine riesige Hand, griff sie und hob sie aus dem Topf. Eine mächtige, donnernde Stimme ertönte: "Wolltet ihr probieren? Warum denn gleich in solch einer Menge? Hier, daraus könnt ihr besser nehmen." Und vor Nik und Tamara, die sich unzweifelhaft auf der Hand eines Sumpfbewohners befanden, erschien eine Kelle, in der Größe wie sie für Menschen normal ist, voll der Flüssigkeit.
Ein riesiges Auge beugte sich zu ihnen herab und betrachtete sie, dann wieder die Stimme: "Besonders glücklich seht ihr ja nicht aus. Habt ihr vielleicht etwas in der Suppe verloren?"
Und mit seiner freien Hand begann er den Boden des gewaltigen Kochtopfes abzusuchen. Kurze Zeit später zog er sie mit einem Ruck wieder heraus. Er fragte, indem er den Schlüssel vor die zwei legte: "War es das, was ihr vermisst habt?"
Nik und Tamara fielen in Freudentaumel. Diese Welt wurde ihnen nun ein Stück weit vertraut. Der Dampf der Suppe musste der Nebel gewesen sein, die Insekten die von dem Duft des Gebräus angelockten Tiere, und die Metallstange ein riesiger Rührlöffel. Jetzt wussten sie nicht nur alles über die Sumpfwelt, nein, sie hatten auch noch beide Dinge, die sie benötigten, Sumpfsuppe und Schlüssel. Mitten in der größten Freude wurden sie plötzlich in einen Wirbel gesogen und standen wieder in der Eingangshalle des verwunschenen Hauses.
Während Nik und Tamara verzweifelt versuchten, sich die klebrige Sumpfsuppe aus Haaren und Ohren zu wischen, zischte das Buch aufgebracht: "Wagt es nicht, mich zu bekleckern! Jetzt, wo ich endlich wieder trocken bin!"
Kaum hatten sich die beiden Freunde notdürftig gereinigt, eilten sie zum Tor, steckten den Schlüssel in das achte Schloss, und traten danach erwartungsvoll an den Kessel. Nik kippte die Sumpfsuppe aus dem Schöpfer in die purpurrote Masse, die sich augenblicklich in einen zähen bräunlichen Brei verwandelte. Fasziniert beobachteten die beiden Freunde wie sich dabei immer wieder riesige Blasen an der trüben Oberfläche bildeten, die mit einem lauten ‚Plopp' platzten und einen höllischen Gestank nach Moorwasser verbreiteten. "Das sieht aber nicht gerade wie ein Zaubermittel aus", bemerkte Nik misstrauisch.
"Natürlich nicht, Dummkopf", meckerte das magische Buch. "Schließlich ist es noch nicht fertig. Wenn ihr zu Beginn aufgepasst hättest, wüsstest ihr, dass noch immer zwei Zutaten fehlen."
Feierlich wiederholte es die mystischen Zeilen:
"Willst du den Fluch des Dämons brechen,
musst du die Zauberformel sprechen,
die aus der Elemente Kraft
ein unbezwingbar Werkzeug schafft.
Berühret von der dunklen Nacht
Versponnen durch der Zeiten Macht,
wird es den Dämon schnell bezwingen
und dir den Frieden wiederbringen."
"Ich habe nicht viel mehr verstanden als beim ersten Mal", gestand Nik und auch Tamara schüttelte irritiert den Kopf.
"Meine Güte, seid ihr schwer von Begriff", stöhnte das Buch genervt. "Außer der Kraft der Elemente, die ihr nun besitzt, benötigt ihr noch die Mächte der Finsternis und der Zeit. Aber ich sehe schon, ich werde es euch wohl wieder ganz genau erklären müssen. Doch zuerst brauchen wir dringend etwas zum Umrühren. Es ist wichtig, dass sich die Zutaten richtig vermischen und keine Klumpen bilden."
"Dazu können wir doch den Schöpfer nehmen," schlug Tamara vor und machte sich daran, diesen in die breiige Masse zu tauchen.
"Halt", kreischte das Buch völlig entgeistert los. "Untersteh dich! Damit zerstörst du alles. Das kommt davon, wenn man mit Unwissenden zusammenarbeitet. Zum Umrühren braucht ihr natürlich einen magischen Gegenstand."
"Und wo finden wir den?", fragte Nik ungeduldig.
"Hinter der nächsten Tür erstreckt sich ein Zauberwald", dozierte das Buch mit wichtiger Stimme. "Auf eurer Suche nach dem neunten Schlüssel werdet ihr sicher irgendwann auch auf den magischen, sprechenden Baum stoßen. Bringt einen seiner Äste."
"Und wie sollen wir erkennen, dass es der richtige Baum ist?", wollte Tamara wissen.
"Oh, das werdet ihr, sobald ihr ihn seht. Es ist nämlich ein ganz außergewöhnlicher Baum. Aber passt auf eurem Weg durch den Zauberwald gut auf. Ich hörte, dass schreckliche, wilde Kreaturen in ihm leben, mit denen nicht zu spaßen ist."
Gespannt öffneten Tamara und Nik die nächste Tür. Welche Abenteuer würden sie wohl diesmal bestehen müssen? Kaum hatten sie die Schwelle überschritten, die sie direkt in den dunklen, geheimnisvollen Zauberwald führte, drang auch schon ein schauriges Heulen zu ihnen. Wie gerne wären die beiden Freunde einfach ungekehrt, doch es gab kein Zurück. Sie mussten sich der ungekannten Gefahr stellen ...






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